„Ich bin nicht mehr die Gleiche“
Pandemie Long-Covid ist ein Erkrankungsbild, das viele Gesichter hat. Die Betroffenen leiden oft sehr, nicht wenige sind arbeitsunfähig. Belastend ist vor allem, dass es noch viel zu wenig Hilfsangebote gibt. Aus dem neuen harten Alltag zweier junger Frauen
Augsburg Was ist in meinem Gehirn passiert? Diese Frage stellt sie sich immer wieder. Und sie macht ihr Angst. Große Angst. Denn dass irgendetwas in ihrem Kopf durcheinandergeraten sein muss, das merkt sie ja. In ihrem Alltag mit ihrer Familie, den drei Kindern, die genau registrieren, dass ihre Mutter immer wieder nach Worten sucht, Gesprächen oft nicht richtig folgen kann, dass sie Dinge einfach vergisst, dass sie unkonzentriert ist und „wie eine Erstklässlerin“mit dem Finger die Buchstaben aneinandersetzen muss, um lesen zu können. Sie, die leidenschaftliche Leserin, die liebevolle Mutter, die ihren Kindern so gerne so oft vorgelesen hat, erkennt sich plötzlich nicht wieder.
Seit ihrer Covid-Erkrankung im Oktober kämpft die 39-Jährige, die hier nur anonym von ihrem Leidensweg erzählen will, mit Folgebeschwerden. Zunächst vor allem mit körperlichen. Ihr geht beispielsweise die Puste bei der kleinsten Anstrengung aus. Beim Treppensteigen in ihrem Haus. Beim Gassigehen mit dem Hund. Dann kribbelt die Zunge immer so, als hätte sie sich verbrannt. Nichts schmeckt mehr richtig. Ihr Geruchssinn funktioniert nicht mehr so gut. Hinzu kommen die beschriebenen mentalen Aussetzer, die Panik.
Was ist das nur? Wohin führt das? Das fragt sie sich immer wieder, denn der Check beim Hausarzt hat kein Ergebnis gebracht. „Man fühlt sich so schrecklich allein, so hilflos“, erzählt sie. Hätte sie keine Familie, die sie stützt, sagt sie, hätte sie nicht am Universitätsklinikum Augsburg in der sich im Aufbau befindlichen Long-Covid-Ambulanz Hilfe erfahren – das Loch wäre bodenlos, in das sie stürzen würde.
Long-Covid und Post-Covid – schon oft wurde von dieser rätselhaften Erkrankung berichtet. Viele Menschen schilderten ihre teils massiven körperlichen und psychischen Spätfolgen nach einer durchlittenen Covid-Infektion. Schätzungsweise 550000 Menschen sind bundesweit betroffen. Davon geht die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, kurz DGP, aus und verweist darauf, dass unter ihrer Leitung auch Leitlinien für eine Behandlung von Long-Covid erarbeitet werden.
Auch an Universitätskliniken wie eben in Augsburg oder in Ulm gibt Studien und Forschungsprojekte, die dazu beitragen sollen, diese Krankheit mit den vielen Gesichtern besser behandeln zu können. Denn so oft man auch von den Schicksalen der an Long-Covid Erkrankten hört – noch immer fehlen klare Behandlungsanleitungen. Was Betroffene vor allem vermissen, sind ausreichend Hilfsangebote. Dabei wächst die Nachfrage enorm.
Wie in Augsburg wurden an einigen bayerischen Universitäten Spezial-Ambulanzen aufgebaut. „Der Bedarf für solche Spezial-Ambulanzen für Long-Covid ist sehr hoch“, sagt Professor Dr. Clemens Wendtner, Chefarzt an der München Klinik Schwabing, der dort mit seinem Team die ersten Covid-Patienten Deutschlands behandelt hat, und ergänzt: „Es gibt viel zu wenige solcher Ambulanzen.“Denn Hausärzte sind seiner Einschätzung nach oft überfordert allein mit der breiten Diagnostik, die alles andere als einfach und in normalen Praxen gar nicht vorgesehen ist. Das Problem sei aber wie so oft: „Diese Ambulanzen müssen finanziert werden, ohne zusätzliche Leistungen kann dieses sehr umfangreiche Untersuchungsangebot keine Klinik schultern“, hebt der Immunologe hervor.
Das bayerische Gesundheitsministerium verweist auf seiner Internetseite auf die Long- beziehungsweise Post-Covid-Ambulanzen an den Universitäten München, Erlangen-Nürnberg, Würzburg und Regensburg. Doch das reiche natürlich nicht, sagt Wendtner. Der Experte ist auch Mitglied im Beraterstab der Bayerischen Staatsregierung, er weiß, dass aktuell bayernweit etwa fünf bis zehn solcher Zentren geplant seien, die Lotsenfunktion für die Patientinnen und Patienten übernehmen sollen. Nötig wäre seiner Ansicht nach aber ein flächendeckendes Netz, das sowohl die Behandlung der körperlichen, aber auch der psychischen Folgeerkrankungen abdeckt.
Das fordert auch Dr. Dominik Buckert. Der Internist und Kardiologe hat schon im Februar eine Spezial-Sprechstunde am Universitätsklinikum Ulm für Long-Covid-Patienten eingerichtet. Nun können aber nur noch ausgewählte Patientinnen und Patienten angenommen weil schlicht die Kapazitäten nicht ausreichen und der Bedarf so stark zunimmt, schildert der Oberarzt die Lage. Als Leiter des Forschungsprojektes zu Long-Covid kam er mit seinem Team zu dem Ergebnis, dass etwa 20 Prozent der in Ulm untersuchten, symptomatischen Long-Covid-Betroffenen Organschäden haben. Vor allem am Herzen, aber auch an der Lunge. Diese Menschen werden entsprechend der gestellten Organdiagnosen weiter behandelt. Schwieriger werde es mit den restlichen 80 Prozent. Bei ihnen sei das Erkrankungsbild unklarer, die Behandlung wesentlich komplizierter.
Sehr viele Betroffene berichten über Konzentrations- und Wortfindungsstörungen, Nervenschmerzen, Taubheit, aber auch Atemnot sowie einer völligen Erschöpfung. Nicht wenige hätten psychische Probleme, etwa große Ängste.
Ernst nehmen müsse man alle diese Beschwerden, betont Buckert. Schließlich sind viele Betroffene so eingeschränkt, dass sie lange, nicht selten mehr als ein Jahr arbeitsunfähig sind. „Das ist eine Katastrophe für jeden Einzelnen, aber auch für unsere Gesellschaft.“Nötig sind seines Erachtens nach spezielle Rehabilitationsangebote. „Der RehaSektor ist schon jetzt in Aufruhr“, sagt er, „denn dort weiß man, was für eine riesige Welle auf sie zukommt.“Auch er rechnet „definitiv“mit einer Zunahme: „Wenn jetzt wieder die Infektionszahlen steigen, wird auch die Zahl der Long-Covid-Patienten steigen.“
Wie notwendig der Aufbau eines flächendeckenden Netzwerks von ausgewiesenen Expertinnen und Experten für Long-Covid in Bayern ist, unterstreicht auch Professorin Dr. Uta Behrends. Die Ärztin leitet eine spezielle Long-Covid-Ambulanz in München-Schwabing, nämes lich eine für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre. Nach eigenen Angaben sind sie damit bislang eine der wenigen Ansprechpartner auf diesem Gebiet deutschlandweit. Dort an der Kinderklinik hat man sich schon vor Corona auf Kinder und Jugendliche spezialisiert, die an einem krankhaften Erschöpfungszustand, auch Fatigue genannt, leiden. „Denn auch bei anderen Viruserkrankungen wie etwa dem Pfeifferschen Drüsenfieber infolge einer Erstinfektion mit dem Epstein-Barr-Virus sind komplexe Langzeitfolgen zu beobachten, ohne dass die genaue Ursache geklärt ist“, führt Behrends aus. Seit Beginn dieses Jahres nehmen die Anfragen bei der Kinder-Ambulanz in Schwabing deutlich zu.
Junge Erwachsene haben nach Einschätzung von Behrends ein höheres Risiko, an einer Fatigue zu erkranken, als Jugendliche und Kinder. Beobachten könne man, dass Mädchen eher betroffen sind als Jungen.
Einzelne schwer Betroffene zeigen, wie die Ärztin erläutert, „das Vollbild des postviralen chronischen Fatigue-Syndroms, kurz CFS“. Neben der krankhaften Erschöpfung sei „eine Unverträglichkeit von Belastung zu beobachten, die so ausgeprägt ist, dass bereits kleine oder kleinste Anstrengungen zu einer lange anhaltenden Verschlechterung der Beschwerden führt“. Daneben zeige sich bei jungen Menschen, die unter CFS leiden, ein breites Beschwerdespektrum. Schlafstörungen, Schmerzen, Störungen der Gedächtnisund Konzentrationsleistung, Kreislaufprobleme, eine Überempfindlichkeit gegenüber Lärm und/oder Licht, eine Unverträglichkeit von Hitze und/oder Kälte sowie grippale Symptome gehören unter anderem dazu.
Auch in der Long-Covid-Ambuwerden, lanz für Kinder wird als Erstes geprüft, ob nicht eine andere körperliche oder seelische Erkrankung die Ursache für die Beschwerden bildet. So kann eine Fatigue auch beispielsweise durch Rheuma, Multiple Sklerose, Depression oder Krebs ausgelöst werden.
Kann dies ausgeschlossen werden, erfolge die Behandlung symptomorientiert, man versucht also etwa die Schmerzen und Schlafstörungen zu therapieren. Die gute Nachricht: „Die Prognose von postviralen Erkrankungen im Kindesund Jugendalter ist besser als die von Erwachsenen“, sagt Behrends. Das heißt, die meisten jungen Patientinnen und Patienten mit LongCovid werden nach den aktuellen Beobachtungen wieder gesund, viele auch schon nach kurzer Zeit. Doch manche brauchen viel Geduld.
Um Geduld muss auch Dr. Stefanie Bader viele ihre Patientinnen und Patienten bitten. Die Internistin und Lungenfachärztin sitzt in einem kleinen Behandlungsraum im ersten Stock des Universitätsklinikums Augsburg und verfügt über das, was man eine positive Ausstrahlung nennt. Eine nicht zu unterschätzende Eigenschaft gerade in ihrem Beruf, gerade als Leiterin der Ambulanz für Long-Covid.
Denn viele ihrer Patientinnen und Patienten sind verzweifelt, ihr Leidensdruck ist hoch – doch eine Therapie, die anschlägt, ist oft noch nicht gefunden. Bader möchte ihnen das Gefühl vermitteln, nicht allein zu sein. Sie vergleicht Long-Covid mit einem Puzzle, bei dem Steinchen für Steinchen wieder zusammengesetzt werden müssen. Bei der der interdisziplinäre Ansatz besonders wichtig ist. Bei Long-Covid gilt es, mit den verschiedensten Fachrichtungen eng zusammenzuarbeiten, um eine ganzheitliche Behandlung zu erreichen. Daher ist ihres Erachtens nach auch der Austausch mit anderen Kolleginnen und Kollegen, auch aus anderen Kliniken, so wichtig. Stehe man doch bei der Behandlung noch ganz am Anfang mit sehr vielen offenen Fragen, fehlenden Daten und fehlenden Behandlungsmöglichkeiten.
Doch auch in Augsburg können sich Betroffene nicht einfach mit ihren Beschwerden in der Ambulanz vorstellen. Zunächst galt das Angebot den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Uniklinik und den dortigen Patientinnen und Patienten. Erst im Herbst hofft Bader, wenn ihr Team aufgestockt ist, mehr Betroffenen helfen zu können, zumal es schon jetzt eine Flut von Anfragen gebe. Sehr gut einschätzen kann sie den Leidensdruck der Betroffenen auch, weil sie über Monate auf einer der Covid-Stationen der Uniklinik gearbeitet, den Überlebenskampf also direkt erlebt hat. Nicht wenige sind aufgrund der Erfahrung, schwer krank gewesen, dem Tod so knapp entronnen zu sein, traumatisiert. Oder zumindest psychisch stark belastet.
„Das macht mit einem auch was“, sagt eine 31-jährige Patientin von Bader. Im Dezember hatte die junge Frau sich mit Covid infiziert und wurde schwer krank. Doch nicht nur sie. Auch ihre Mutter, ihr Vater, ihr Onkel. Alle vier kämpften auf der Intensivstation der Uniklinik Augsburg um ihr Leben.
Die 55-jährige Mutter schaffte es nicht, sie starb. Ihr Mann, ihre Tochter und ihr Schwager überlebten zwar, gerade die Tochter aber plagen bis heute schwere Spätfolgen der Infektion. Spätfolgen, die sie noch immer so einschränken, dass sie nicht arbeitsfähig ist. Wobei allein der schmerzhafte Verlust der Mutter entsetzlich ist.
Rein körperlich fehlt der 31-Jährigen, die ebenfalls anonym bleiben will, nichts mehr. Das hat Dr. Bader wie bei ihren anderen Long-CovidBetroffenen gründlich überprüft. Es sind diese ständige, bleierne Müdigkeit, dieses Gefühl, dass alles viel zu anstrengend ist, diese Wortfindungsstörungen, die sie so quälen. „Ich vergesse die Sachen einfach. Ich tu mich so schwer beim Lesen, dabei war das ein Herzstück meines Berufes. Ich kann einfach bei keiner Sache bleiben, mache Fehler, die ich vorher nicht kannte“, erzählt sie. Und ergänzt nach einer Weile: „Mir wurden wirklich meine ganzen Grundlagen weggerissen. Und ich steh nur da und habe keine Kraft mehr.“
Was die junge Frau vor allem belastet: „Dieses Tasten im Dunkeln“, dieses Nicht-Wissen, wie es weiter geht, dieses Nicht-Wissen, ob man je wieder ganz gesund, ganz fit wird. Auch für ihr Umfeld sei die Lage nicht leicht. „Ich bin einfach nicht mehr wie früher“, sagt sie. „Ich bin nicht mehr die Gleiche.“
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Es fehlen Daten und es fehlen Behandlungsmöglichkeiten