Was der Staat darf – und was nicht
Hintergrund Mehrere europäische Länder haben eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen erlassen. Deutschland setzt auf Freiwilligkeit. Doch in der Bevölkerung ist ein Stimmungsumschwung zu erkennen
Augsburg US-Präsident Joe Biden versucht es mit Zuckerbrot für die einen und der Peitsche für die anderen: Jeder, der sich jetzt gegen das Coronavirus impfen lässt, soll 100 Dollar Belohnung bekommen. Für Millionen Mitarbeiter der Regierung, die noch nicht geimpft sind, wird es hingegen ungemütlich: Angestellte, die keinen Impfnachweis vorlegen können, sollen künftig stets eine Maske tragen müssen und ein bis zwei Mal pro Woche auf eine mögliche Infektion getestet werden. Das Weiße Haus will mit den strengen Regeln Impfungen zur einzig bequemen Lösung machen.
Deutlich weiter gehen da die Regierungen vieler europäischer Länder. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron setzte eine Impfpflicht für Mitarbeiter des Gesundheitswesens und der Pflege durch. In Griechenland, Italien und Großbritannien wurden ähnliche Regeln erlassen. In Deutschland bleibt es bislang bei der politischen Debatte – früh hatte sich die Regierung festgelegt, dass es keine Impfpflicht geben sollte. Skeptikern sollte damit die Angst genommen werden; eine Impfpflicht schien der Bevölkerung kaum vermittelbar. Inzwischen aber scheint sich die Stimmung zu drehen. In einer Umfrage fand das Meinungsforschungsinstitut Civey für den Spiegel heraus: Eine knappe Mehrheit der Deutschen sieht eine verpflichtende Impfung gegen Corona positiv. 52 Prozent der Deutschen sind dafür; 43 Prozent sprechen sich dagegen aus. Besonders bei den Anhängern von SPD und Union ist der Wille zur Pflichtimpfung groß. Wähler von AfD und FDP sehen den Zwang kritisch.
Ganz neu ist das Thema Impfpflicht in Deutschland nicht. Zum Schutz vor den hoch ansteckenden Masern ist nach langer Diskussion seit dem 1. März 2020 eine Impfung unter anderem für Kinder in Kitas und Schulen verpflichtend. Eltern müssen nun vor der Aufnahme nachweisen, dass ihre Kinder geimpft sind. Auch die Betreuerinnen und Betreuer fallen unter diese Regelung. Allerdings liegen Verfassungsbeschwerden gegen diese Vorgabe vor; in diesem Jahr will das Bundesverfassungsgericht ein Urteil fällen. Eilanträge wurden bereits abgewiesen. Die Begründung war, dass „Impfungen gegen Masern (...) nicht nur das Individuum gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern (...)“. Eine ähnliche Abwägung hatte das Gericht bereits 1959 zu treffen. Damals gab es in Deutschland eine Impfpflicht gegen Pocken – die Richter bejahten die Rechtmäßigkeit. Erst im Jahr 1976 wurde die Pflicht zur Pocken-Impfung in Deutschland aufgehoben, 1979 erklärte die Weltgesundheitsorganisation die Pocken für ausgerottet. In der DDR gab es eine Impfpflicht gegen Pocken, Tuberkulose, Kinderlähmung und viele andere Krankheiten.
Heute setzt das Infektionsschutzgesetz einer verpflichtenden Impfung enge rechtliche Grenzen – schließt sie aber auch nicht aus: Eine solche Pflicht kann von der Bundesregierung demzufolge nicht ohne Weiteres angeordnet, sondern nur mit Zustimmung des Bundesrates, also von Bund und Ländern gemeinsam beschlossen werden – „für bedrohte Teile der Bevölkerung“, wie es in Paragraf 20, Absatz 6 heißt. Der Passus gilt bereits seit 2001. Verpflichtende Impfungen sind in besonderen Fällen zu rechtfertigen. Zwar heißt es in Artikel 2 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Aber auch: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“Die Hürden für eine allgemeine Impfpflicht sind damit sehr hoch – ausgeschlossen ist sie nicht. Das Stichwort lautet: Verhältnismäßigkeit.
Schon im Frühjahr hatten Betreiber von Altenheimen und auch andere Arbeitgeber gedroht, nur noch Geimpfte zu beschäftigen. Die Mitarbeiter der Internetriesen Google und Facebook in den USA müssen sich vor einer Rückkehr in die Büros gegen das Coronavirus impfen lassen. Das ist in Deutschland so einfach nicht – ohne gesetzliche Vorlage dürften Mitarbeiter allenfalls in andere Bereiche versetzt werden. Hinzu kommt: Der Arbeitgeber darf wohl seine Mitarbeiter nicht danach fragen, ob die geimpft sind, beziehungsweise diese hätten aktuell keine Pflicht, das wahrheitsgemäß zu beantworten. Auskunftspflicht besteht laut Gewerkschaftsbund nur dann, wenn eine Impfung die zwingende Voraussetzung sei, eine Tätigkeit auszuführen. Unter andern könnte das für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen gelten. Viele juristische Details dürften aber noch zu klären sein.
Einen ganz anderen Tipp hatte kürzlich Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) parat. Sie erinnert Restaurants an die Möglichkeit, nur für Geimpfte zu öffnen. „Die Vertragsfreiheit ermöglicht privaten Anbietern wie Gastronomen eine weitgehend freie Gestaltung ihrer Angebote“, sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Erste Betriebe machen von diesem Recht Gebrauch. Christian Wolf, Geschäftsführer des Hotels „Obermühle“in Garmisch-Partenkirchen, sagte der Bild am Sonntag: „Wir werden ab dem 1. Oktober nur noch geimpfte Gäste beherbergen – zum Schutz meiner Mitarbeiter, meiner Gäste und letztlich auch meines Unternehmens.“