Heinrich Mann: Der Untertan (127)
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut schen Kaiserreich um 1900 zu einem intriganten und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogramm eines Nationalisten.
Aber die apokalyptischen Reiter flogen weiter; Diederich merkte es, sie hatten nur ein Manöver abgehalten für den Jüngsten Tag, der Ernstfall war es nicht. Unter Vorbehalt verließ er seine Zuflucht und stellte fest, daß es nur noch goß und daß Kaiser Wilhelm der Große noch da war, mit allem Zubehör der Macht. Diederich hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, das Denkmal sei zerschmettert und weggeschwommen. Der Festplatz freilich sah aus wie eine wüste Erinnerung, keine Seele belebte seine Trümmer. Doch, dahinten bewegte sich eine, sie trug sogar Ulanenuniform: Herr von Quitzin, der das eingestürzte Haus besichtigte. Dem Blitz erlegen, rauchte es hinter den Resten seiner großen schwarzen Brandmauer; und in der Flucht aller hatte nur Herr von Quitzin standgehalten, denn ihn stärkte ein Gedanke. Diederich sah ihm ins Herz. ,Das Haus‘, dachte Herr von Quitzin, ,hätten wir auch noch loswerden
sollen an das Pack. Aber nicht zu machen gewesen, haben es mit aller Gewalt nicht durchgedrückt. Na nu kriege ich die Versicherung. Es gibt einen Gott.‘ Und dann ging er der Feuerwehr entgegen, die zum Glück nicht mehr wesentlich eingreifen konnte in das Geschäft.
Auch Diederich, durch das Beispiel ermutigt, machte sich auf den Weg. Er hatte seinen Hut verloren, am Boden seiner Schuhe schlenkerte Wasser, und in der rückwärtigen Erweiterung der Beinkleider trug er eine Pfütze mit sich herum. Da ein Wagen nicht erreichbar schien, beschloß er, die innere Stadt zu durchqueren. Die Winkel der alten Straßen fingen den Wind ab, ihm ward es wärmer. ,Von einem Katarrh ist nicht die Rede. Guste soll mir aber doch einen Wickel um den Bauch machen. Wenn sie nur gefälligst keine Influenza ins Haus einschleppt!‘ Nach dieser Sorge erinnerte er sich seines Ordens: „Der Wilhelms
Orden, Stiftung Seiner Majestät, wird nur verliehen für hervorragende Verdienste um die Wohlfahrt und Veredelung des Volkes. Den haben wir!“sagte Diederich laut in der leeren Gasse. „Und wenn es Dynamit regnet!“Der Umsturz der Macht von seiten der Natur war ein Versuch mit unzulänglichen Mitteln gewesen. Diederich zeigte dem Himmel seinen Wilhelms-Orden und sagte „Ätsch!“– worauf er ihn sich ansteckte, neben den Kronenorden vierter Klasse.
In der Fleischhauergrube hielten mehrere Fuhrwerke: merkwürdig, vor dem Haus des alten Buck. Eins war noch dazu ein Landwagen. Sollte etwa…? Diederich spähte in das Haus: die gläserne Flurtür stand außerordentlicherweise offen, so als würde jemand erwartet, der selten kam. Feierlich still die weite Diele, nur, wie er an der Küche vorbeischlich, ein Wimmern: die alte Magd, mit dem Gesicht auf den Armen. ,Also ist es soweit‘ – und plötzlich ward Diederich von einem Schauer angerührt, er blieb stehen, bereit, den Rückzug anzutreten. ,Dabei habe ich nichts zu tun. Doch! Dabei habe ich zu tun, denn hier ist jedes Stück mein, ich habe die Pflicht, dafür zu sorgen, daß sie mir nachher nichts forttragen.‘
Aber nicht nur dies drängte ihn vorwärts; Schwierigeres und Tieferes kündigte sich an mit Schnaufen und Bauchklemmen. Gehaltenen Schrittes erstieg er die flachen alten Stufen und dachte: ,Respekt vor einem tapferen Feind, wenn er das Feld der Ehre deckt! Gott hat gerichtet, ja, ja, so geht es, keiner kann sagen, ob er nicht eines Tages… Na hören Sie, es gibt denn doch Unterschiede, eine Sache ist gut oder nicht gut. Und für den Ruhm der guten Sache soll man nichts versäumen, unser alter Kaiser hat sich wahrscheinlich auch zusammennehmen müssen, als er nach Wilhelmshöhe zu dem gänzlich erledigten Napoleon ging.‘
Hier war er schon im Zwischengeschoß und betrat vorsichtig den langen Gang, an dessen Ende die Tür offen…, auch hier wieder offenstand. Sich gegen die Wand drücken, und einen Blick hinein: Ein Bett, mit dem Fuß hergewendet, darin lehnte an gehäuften Kissen der alte Buck und schien nicht bei sich. Kein Laut; war er denn allein? Behutsam auf die Gegenseite – nun sah man die verhängten Fenster und davor im Halbkreis die Familie: dem Bett zunächst Judith Lauer, ganz starr, dann Wolfgang mit einem Gesicht, das niemand erwartet hätte; zwischen den Fenstern die zusammengedrängte
Herde der fünf Tochter neben dem bankerotten Vater, der nicht einmal mehr elegant war; weiterhin der verbauerte Sohn mit seiner stumpf blickenden Frau, und endlich Lauer, der gesessen hatte. Mit gutem Grund hielten alle sich so still; zu dieser Stunde verloren sie die letzte Aussicht, noch einmal mitzureden! Sie waren obenauf gewesen und hatten sich in Sicherheit gewiegt, solange der Alte standhielt.
Er war gefallen, und sie mit, er verschwand, und sie alle mit. Er hatte immer nur auf Flugsand gestanden, da er nicht auf der Macht stand. Nichtig Ziele, die fortführten von der Macht! Fruchtlos Geist, denn nichts hinterließ er als Verfall! Verblendung jeder Ehrgeiz, der nicht Fäuste hatte und Geld in den Fäusten!
Woher aber dies Gesicht, das Wolf gang hatte? Es sah nicht aus wie Trauer, obwohl Tränen aus seinen dort hinüberverlangenden Augen fielen; es sah aus wie Neid, gramvoller Neid. Was hatten die andern? Judith Lauer, deren Brauen sich dunkel zusammenzogen, ihr Mann, der aufseufzte – und die Frau des Ältesten sogar faltete vor dem Gesicht ihre Arbeiterinnenhände. Diederich, in entschlossener Haltung, stellte sich mitten vor die Tür. Es war dunkel im Gang, die da sahen nicht, und mochten sie; aber der Alte? Sein Gesicht war genau hierher gerichtet, und wo es hinsah, ahnte man dennoch mehr, als hier war, Erscheinungen, die niemand ihm verstellen konnte. Ihren Widerschein in seinen überraschten Augen, öffnete er auf den Kissen langsam die Arme, versuchte sie zu heben, hob, bewegte sie, winkend und empfangend – wen doch? Wie viele wohl, mit so langem Winken und Empfangen? Ein ganzes Volk, sollte man glauben, und welchen Wesens, daß es durch sein Kommen dies geisterhafte Glück hervorrief in den Zügen des alten Buck?
Da erschrak er, als sei er einem Fremden begegnet, der Grauen mitbrachte: erschrak und rang nach Atem. Diederich, ihm gegenüber, machte sich noch strammer, wölbte die schwarz-weiß-rote Schärpe, streckte die Orden vor, und für alle Fälle blitzte er. Der Alte ließ auf einmal den Kopf fallen, tief vornüber fiel er, ganz wie gebrochen. Die Seinen schrien auf. Vom Entsetzen gedämpft, rief die Frau des Ältesten: „Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!“Judith Lauer stand langsam auf und schloß die Tür. Diederich war schon entwichen.
ENDE