Kunst mit Haut und Haar
Ausstellung Bei der venezianischen Biennale trat sie 2019 fulminant hervor. Jetzt hat sie im Münchner Museum Brandhorst ihre bislang größte Solo-Schau: Alexandra Bircken, Professorin für Bildhauerei
München Die Obsession des Künstlers ist sein Kapital. Seit bald zwanzig Jahren widmet sich Alexandra Bircken, die bei der letzten Biennale in Venedig fulminant und damit erinnerungsstark hervorgetreten ist, der Hülle des Menschen.
Also einerseits der Haut als Körperorgan, Membran und Schutzmantel, andererseits der Bekleidung als zweite Haut, Isolation, Außendarstellung und Schutzpanzer. Automatisch damit verbunden: die Auseinandersetzung mit Innen und Außen.
Woher die Obsession kommt? Mit Sicherheit auch durch ein Fashion-Studium am Central Saint Martins College of Art und Design in London – gefolgt von Entwicklung und Entwurf eines eigenen Fashion-Labels. Das ist bemerkenswert. Denn da, wo in einer schöpferischen Branche etliche männliche Kollegen nach angeschwollenem Erfolg in die Vermarktung ihrer Kunst als ModeMarke einsteigen – Jeff Koons steht da wohl an der Spitze –, hat Alexandra Bircken den umgekehrten Weg eingeschlagen: von der angewandten, mehr oder weniger schmückenden Kunst zu einer autonomen, deutlich irritierenden Kunst.
Was jetzt im Münchner Museum Brandhorst in Birckens bislang umfangreichster Solo-Ausstellung „A – Z“zu betrachten ist, darf den Anspruch auf eine reflektierende, analysierende, hintersinnige, kritische, mitunter verstörende Kunst ebenso stellen wie auf eine spielerisch planvolle, exemplarisch formbewusste, also auch ästhetische Kunst. Diese und die Künstlerin im Gespräch sind gleichermaßen zugänglich.
Ein schöner Einstieg in die Skulpturen-, Installations- und Materialbild-Welt der 1967 in Köln geborenen Bircken sind ihre zarten Wandteppiche „Black skin“und „Skin deep“: geometrisch komponierte Patchworks aus Nylonstrümpfen, aufgespannt jedoch wie eine Tierhaut, wie ein Tierleder. Hier ist sie idealtypisch zu sehen, die Obsession Birckens: Als gedankliche Verknüpfung einer wirklichen und einer zweiten, mitunter spitzendurchwirkten Haut.
Komplexer wird es bei Birckens „Madonna“-Plastik aus Baumwolle und Epoxidharz: Praktisch eine durchbrochene ikonografische Umriss-Kontur der Mutter Gottes mit Kopftuch – ohne Kind, aber mit eiBall (Weltenkugel?) und vor allem mit angestücktem blonden Haar – eines der bei Alexandra Bircken immer wiederkehrenden MaterialLeitmotive. Ein Schaukelpferd wiederum, überzogen mit Tierfell (und menschlichem Haar) schlägt die Brücke zu einem anderen Werkkreis der Münchner Professorin für Bildhauerei. Es ist gleichsam ein Readymade, das einem Eingriff, einer Operation, einer Teilung unterzogen wurde: Ein Klappscharnier verbindet die Körperhälften des Pferdes; der Blick fällt auch hinter die Grenze zwischen Außen und Innen.
Doch vor der Beschreibung weiterer operierter Readymades, diesem gesellschaftspolitisch wohl aufgeladensten Werkkreis Alexandra Birckens, noch ein Blick auf einen dritten Werkkreis, der sich schlüssig auch aus ihrer einstigen Beschäftigung mit Materialien der Mode-Inergibt: Stoffe, Tücher, Wolle, Maschen. Immer wieder begegnet den Betrachtern im Untergeschoss des Brandhorst-Museums das Motiv des Knotens, des Geflechts und des Gewebes. Mitunter so seriell ausgeführt wie auch die seriell nebeneinander ausgerichteten Rinderknochen auf den FußbodenLüftungsgittern der Räume.
Aufscheint in den Geflechten mal die strikt und streng organisierte minimalistische Komposition einer zweiten Haut, mal das freie organische Gespinst, mal die textile, durchbrochene Hülle einer kleinen Berglandschaft oder eines mannshohen Zeltes, mal ein Kokon oder Netzgebilde. Alles Auseinandersetzungen mit dem planvollen Weben, Knüpfen, Spinnen, Wirken – gipfelnd in der sogenannten „Skieliesel“, einer verfremdeten und überdimensionierten Strickliesel aus kreisförmig aufgestellten Skibretnem tern, in deren Mitte ein Strick-Geflecht gleichsam „entsteht“. Da kommt auch ein Schuss Dada, ein Schuss Surrealismus, ein Schuss Humor mit ins Spiel.
Doch entscheidend bleibt in Alexandra Birckens Werk der Ernst im besagten Werkkreis umoperierter Readymades sowie in den neugestalteten Objekten aus dem Dunstkreis männlichen Macht- und Überlegenheitsansprüche: die trennscharf zerteilte Motorrad-Rennmaschine, die trennscharf aufgespaltene Schnellfeuerwaffe, die phallisch sich emporreckenden Projektile beziehungsweise Kernwaffenbomben aus Latex („Ugly“, „Big“, „Fat“, „Fellow“), die Motorradhandschuhe, die zu Handgranaten mutieren, die vier – wie Glieder – herabhängenden Gangschalthebel, selbst die zum Taktstock umfunktionierte Nockenwelle. In scharfem Kontrast dazu: die Negativ-Abgüsse weiblidustrie cher Genitalien sowie die eingegossene Plazenta von Birckens zweiter Tochter (unter dem auf Gustave Courbet anspielenden Titel „Origin of the world“).
Spricht man aber Alexandra Bircken auf die sich notwendigerweise einstellenden Deutungen an, wiegelt sie ab: „Ich arbeite nicht gegen oder für etwas, ich arbeite nicht mit Bitterkeit, nicht gender- oder gesellschaftspolitisch.“Doch dann fügt sie auch hinzu: „Aber im Unterbewusstsein könnte es mitschwingen.“Es wäre nicht das erste Mal, wenn auch bei Alexandra Bircken die Kunst mehr verraten würde als ihre Autorin selbst.
Auf jeden Fall gilt: Ins Brandhorst. Um wahrzunehmen.
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Ausstellungsdauer: bis 16. Januar 2022; Katalog 39,80 Euro (Museums ausgabe), Öffnungszeiten: außer montags von 10 bis 18, donnerstags bis 20 Uhr