Fred Uhlman: Der wiedergefundene Freund (2)
Hohenfels, der noch nie etwas von dem Kaviar-Klub gehört hatte, lächelte höflich, erwiderte, gerade jetzt sei er schrecklich beschäftigt, und ließ die drei Weisen enttäuscht stehen.
3 Ich kann mich nicht genau erinnern, wann ich beschloss, Konradin zu meinem Freund zu wählen. Doch stand fortan für mich fest, dass er eines Tages mein Freund sein würde. Vor seiner Ankunft hatte ich keinen besessen, in meiner Klasse gab es niemand, der meinem romantischen Freundschaftsideal entsprach, niemand, zu dem ich aufsehen konnte, für den ich hätte sterben mögen und der mein Verlangen nach völligem Vertrauen, nach Treue und Selbstaufopferung begreifen konnte. Alle schienen mir aus demselben Holz: mehr oder weniger schwerfällige Schwaben, gewöhnlich, gesund und phantasielos – der Kaviar-Klub nicht ausgenommen. Die meisten der Jungen waren nette Kerle, und ich kam gut mit ihnen aus. Aber so,
wie ich für sie nichts Besonderes übrighatte, so auch sie nicht für mich. Nie kam ich in ihre Wohnungen, nie besuchten sie unser Haus. Einer der Gründe für meine Zurückhaltung war, dass sie alle so ungeheuer lebenstüchtig waren und schon wussten, was sie werden wollten: Rechtsanwälte, Offiziere, Lehrer, Pfarrer und Bankleute. Nur ich hatte keine Ahnung von meiner Zukunft, höchstens unbestimmte Träume. Ich wusste nur, dass ich reisen wollte, und glaubte, dass ich einmal ein großer Dichter sein würde.
Die Wendung „ein Freund, für den ich hätte sterben mögen“lässt mich zögern. Aber auch jetzt, dreißig Jahre später, meine ich, dass das keine Übertreibung war: Ich wäre bereit, ja fast glücklich gewesen, für einen Freund zu sterben. So wie das „dulce et decorum est pro patria mori“mir selbstverständlich schien, so süß und ehrenvoll schien es mir „pro amico“zu sterben. Bei Jungen zwischen sechzehn und achtzehn Jahren verschmilzt mitunter eine naive Unschuld, eine strahlende Reinheit des Leibes und des Geistes mit dem leidenschaftlichen Drang zu absoluter und selbstloser Hingabe. Diese Phase ist in der Regel nur kurz, aber ihre Intensität und Einzigartigkeit verklärt sie zu einer der kostbarsten Erfahrungen des Lebens.
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Ich wusste also, dass er mein Freund sein würde. Alles zog mich zu ihm hin. Da war zuerst sein glanzvoller Name, der ihn für mich über alle hinaushob, einschließlich der andern „Vons“(auch die Herzogin von Guermantes wäre für mich attraktiver gewesen als eine Madame Meunier). Seine Haltung, seine Manieren, seine Eleganz, sein gutes Aussehen – Attribute, deren Wirkung sich niemand entziehen konnte – überzeugten mich, dass ich endlich jemanden gefunden hatte, der meinem Ideal entsprach.
Wie aber konnte ich ihn für mich gewinnen? Was hatte ich ihm zu bieten, ihm, der freundlich, aber bestimmt die adeligen Schulkameraden und den Kaviar-Klub abgewiesen hatte? Wie konnte ich ihn erobern, wie die Verschanzung hinter Tradition, angeborenem Stolz und anerzogener Arroganz durchbrechen? Überdies schien er sich durchaus wohl zu fühlen so allein und abseits der anderen Jungen, unter die er sich nur gemischt hatte, weil dies nicht zu vermeiden war.
Seine Aufmerksamkeit zu erregen, ihn mit der Tatsache zu beeindrucken, dass ich anders war als dieser blöde Haufen, ihn zu überzeugen, dass ich allein sein Freund sein konnte – für die Lösung dieses Problems wusste ich keine klare Antwort. Aber ich fühlte, dass ich hervorstechen musste. Auf einmal wurde mir wichtig, was in der Klasse vorging. Gewöhnlich war ich zufrieden, wenn man mich mit meinen Träumen allein ließ, mich nicht mit Fragen und Problemen störte. Ich wartete, bis die Klingel mich von der täglichen Mühsal erlöste, und sah keinen Grund, bei meinen Kameraden Eindruck zu schinden. Solange meine Noten ordentlich ausfielen – was ich leicht schaffte –, brauchte ich mich nicht abzumühen. Warum sollte ich den Lehrern imponieren? Diesen müden, enttäuschten alten Männern, die uns vorbeteten: „Non scholae sed vitae discimus“, während sich mir doch das Gegenteil darbot?
Aber jetzt erwachte ich zum Leben. Ich meldete mich, sobald ich merkte, dass ich etwas zu sagen hatte. Ich diskutierte über „Madame Bovary“, stritt, ob es einen Homer gegeben hatte oder nicht, ritt Attacken gegen Schiller, nannte Heine einen Poeten für Handlungsreisende
und erhob Hölderlin zum größten deutschen Dichter, „größer sogar als Goethe“. In der Rückschau kommt mir das alles kindisch vor, aber es elektrisierte meine Lehrer und fiel selbst dem Kaviar-Klub auf. Die Ergebnisse überraschten mich. Die Lehrer, die mich aufgegeben hatten, spürten plötzlich, dass sie sich nicht ganz vergeblich angestrengt hatten und dass sie endlich doch einen Lohn für ihre Mühen ernteten. Sie wandten sich mir mit aufflammender Hoffnung und einer rührenden, fast übertriebenen Freude zu. Sie ließen mich übersetzen, forderten mir Erklärungen für Szenen aus „Faust“und „Hamlet“ab, und ich reagierte mit Vergnügen und, wie ich meine, mit einem gewissen Sachverstand. Die zweite bewusste Anstrengung unternahm ich in den Turnstunden. Damals – vielleicht ist das heute anders – hielten unsere Lehrer am Gymnasium den Sport für einen Luxus. Hinter einem Ball herzulaufen und ihn herumzustoßen, wie das in England und Amerika üblich war, schien ihnen eine schreckliche Verschwendung wertvoller Zeit, die besser für den Erwerb von Kenntnissen genutzt wurde. Zwei Stunden in der Woche zur Ertüchtigung des Körpers wurden für ausreichend, wenn nicht für mehr als genug erachtet.
Unser Turnlehrer war ein lauter, strammer, kleiner Mann. Max Loehr, genannt Muskelmax, mühte sich verzweifelt, unsere Brust-, Arm- und Beinmuskulatur in der verfügbaren kurzen Zeit nach Kräften zu stärken. Dazu dienten ihm drei international berüchtigte Folterinstrumente: Reck, Barren und Pferd. Üblicherweise ließ er uns zuerst rund um die Turnhalle laufen, dann folgten einige Freiübungen. Nach diesem Anwärmen stellte uns Muskelmax an sein Lieblingsgerät, das Reck, und führte uns ein paar Übungen vor, für ihn leicht wie ein Kinderspiel, für die meisten von uns jedoch extrem schwierig. Meist forderte er dann einen der gewandtesten Schüler auf, es ihm nachzutun, und mitunter hatte er auch schon mich ausgesucht. In den letzten Monaten allerdings hatte er Eisemann bevorzugt, der sich gerne aufspielte und Reichswehroffizier werden wollte.
Diesmal war ich entschlossen, mich vorzudrängen. Muskelmax ging zum Reck, stellte sich darunter in Positur, streckte die Arme und sprang elegant hoch, die Stange mit eisernem Griff packend. Unglaublich leicht und gewandt, zog er Zentimeter um Zentimeter seinen Körper hoch, bis er auf dem Reck aufruhte.