In Todesangst um Schwester und Bruder
Für zwei Brüder aus Kabul, die im Unterallgäu Fuß gefasst haben, ist die Machtübernahme der Taliban vor allem eine persönliche Katastrophe, die sie schwer mitnimmt
Viel Zeit bleibt nicht mehr, da ist sich Abdulshukoor Saboori sicher. Vielleicht sind es noch drei Monate, vielleicht auch sechs. Spätestens bis dann, sagt der 36-Jährige, müssen alle Menschen in Afghanistan in Sicherheit gebracht sein, die ins Visier der radikalislamischen Taliban geraten sind. Darunter sind auch einer seiner Brüder und eine Schwester, die sich für Frauenrechte einsetzt. Saboori fürchtet um ihr Leben.
Abdulshukoor Saboori lebt seit 2014 in Deutschland. Mit großem Fleiß hat er Deutsch gelernt, das er inzwischen sehr gut spricht. Zuerst hat er mit seinem jüngeren Bruder Abdulmalek in Kirchheim gelebt, wo er sich ehrenamtlich bei der Mittagsbetreuung an der Grundschule engagiert hat. Am Mindelheimer Landratsamt hat er sich danach zum Verwaltungsfachangestellten ausbilden lassen.
Die Hilfsbereitschaft der Kirchheimer
Der 36Jährige zog von Mindelheim nach Augsburg
und Mindelheimer hat er in dieser Zeit sehr schätzen gelernt. „Dort habe ich noch viele Freunde.“Seit knapp zwei Jahren lebt er mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern in Augsburg, wo er bei der Stadt beschäftigt ist.
Sein 23-jähriger Bruder Abdulmalek hat eine Ausbildung bei der Firma Glass absolviert. Inzwischen hat er bei dem Mindelheimer Bauunternehmen einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Auch er schwärmt von der Hilfsbereitschaft, die er in Kirchheim und Mindelheim erlebt Und er sagt auch, dass er dem früheren Landrat Hans-Joachim Weirather unendlich dankbar ist für dessen Einsatz, dass er in Deutschland eine Chance bekommen hat. Die beiden Brüder mögen in diesen Tagen kaum noch Nachrichten sehen oder hören. Zu sehr wühlt sie innerlich auf, was sie aus ihrer Heimat Afghanistan hören. Die Tage seit dem Einmarsch der gefürchteten Taliban in Kabul waren für Abdulshukoor Saboori und seine Familie die reinste Tortur. Und doch will er wissen, wie sich die Lage in Kabul weiter entwickelt, seitdem die Taliban das Land regelrecht überrannt und die Macht übernommen haben.
Von seiner Schwester hat er seit mehr als einer Woche kein Lebenszeichen mehr erhalten. Sie versteckt sich auf dem Land. Auch die 19-jährige Frau seines 23-jährigen Bruders Abdulmalek, die in der Hauptstadt Kabul lebt, ist fürs Erste untergetaucht. Eine Verbindung per Telefon, WhatsApp oder Skype aufzunehmen, sei nicht ohne Risiko. Jeder Kontakt könne die Taliban auf die Spur ihrer Gegner bringen. Deshalb müssten sich Verfolgte verstecken und ihre Beziehungen kappen, sagt der 36-Jährige. Eine Vorsichtsmaßnahme ist, sich eine neue SimKarte fürs Handy und eine neue Telefonnummer zu besorgen. Oft könne man nicht einmal sicher sein, wer aus der eigenen Familie plötzlich mit den Taliban paktiert, deutet Saboori an.
Sein Vater war in Afghanistan zunächst bei der Zentralbank beschäftigt. Dann ging er in die Politik und kandidierte zweimal bei Wahlen. Die damalige Regierung hat ihn anschließend aber aus der Siegerliste ausgeschlossen, erzählt Abdulshukoor Saboori. Er hat mit König Mohammed Sahir Shah zusammengearbeitet. Deshalb sei sieben Mal auf ihn geschossen worden.
Seine Schwester habe mit internationalen Frauenorganisationen Schulen entwickelt. Den eigenen Verwandten habe das politische Engagement der Familie missfallen. Beide Eltern sind noch vor gar nicht langer Zeit gestorben. Sie erlagen einer Coronavirus-Infektion.
Abdulshukoor stieg zunächst bei der afghanischen Kriminalpolizei in Kabul zum Ausbildungsleiter auf. Er arbeitete viel mit Polizisten aus dem Ausland zusammen. Ziel war immer die Antwort auf die Frage: „Wie können wir unsere Arbeit professionalisieren?“
In dieser Zeit hat er auch mit deutschen Polizeikräften und Europol eng und gut zusammengearbeitet. Später hat Saboori für die britihat. sche Botschaft und die internationale Sicherheitsunterstützungstruppe Isaf der Nato gearbeitet.
Abdulshukoor Saboori war einer der Hauptakteure, die Kriminelle, Militante und Drogendealer hinter Gitter gebracht haben. Doch diese kamen später frei und trachteten ihm nun nach dem Leben. 2013 entschloss er sich, zu fliehen.
Jetzt fürchtet der 36-Jährige Racheakte an all jenen, die die Taliban als ihre Gegner ausmachen. Es sei bei Weitem nicht ausreichend, nur ein paar Tausend Menschen in Sicherheit zu bringen. „300.000 bis 400.000 Menschen brauchen unbedingt Schutz“, betont er. Er appelliert deshalb an die westlichen Staaten, jetzt nicht die finanzielle Unterstützung für sein Land zu stoppen, wie das Deutschland bereits angekündigt hat. Saboori fürchtet, dass dies zu einer stärkeren Radikalisierung der Taliban führen werde. Zumindest die nächsten Monate, bis die besonders gefährdeten Menschen aus dem Land gebracht sind, sollten die Hilfsgelder weiter fließen.
Die Tragödie seines Landes nimmt ihn spürbar mit. Am Ende des Gesprächs wird er grundsätzlich. Auch seine Landsleute hätten Fehler gemacht. „Aber das ist nicht unser Krieg.“Die Großmächte China, Russland und USA mischten hier vor dem Hintergrund der immensen Bodenschätze mit, die das Land zu bieten hat. Opfer dieser Machtspiele sei die Bevölkerung.
Hinzu kommt der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten, also zwischen Iran und Saudi-Arabien. Er würde sich wünschen, dass die Menschen dazulernen. Afghanen und Pakistani zum Beispiel sollten sich persönlich begegnen, damit sie spüren, dass sie viel mehr gemeinsam haben als sie trennt.
Er ist sehr dankbar, dass er sicher mit seiner Familie in Deutschland leben kann. Dieses neue Leben ist für ihn aber auch ein Kraftakt, nicht nur der Sprache wegen. Er will seine Chance nutzen, die er bekommen hat. Und das geht nur über Leistung, wie er weiß. Derzeit versucht er, einen berufsbegleitenden Studienplatz in Public Management zu bekommen. Die Woche über will er arbeiten, um seine Familie zu ernähren. An den Wochenenden wird gelernt. „Ich gebe nicht auf!“
Auf der Heimfahrt von Augsburg nach Mindelheim sagt sein Bruder Abdulmalek, was er an seinem neuen Leben besonders schätzt: Dass man auf einer Straße wie der B17 fahren kann, ohne beschossen zu werden.