Verlassen, vergessen und verfallen
Sommerserie Früher war die Dorfwirtschaft der Treffpunkt schlechthin im Ort. Heute stehen immer mehr Gasthäuser auf dem Land vor dem Aus. Einige Menschen in Bayern wollen ihnen nun zu altem Glanz verhelfen / Folge 4
Mutige Macher, Menschen, die viel Zeit, Energie und Herzblut in aufwendige Projekte stecken, können die Welt verändern. Im Kleinen und im Großen. In unserer Serie „Ideen für ein besseres Bayern“wollen wir solche Menschen und Projekte vorstellen. In der vierten Folge geht es um Männer und Frauen und ganze Gemeinden, die ihre Dorfwirtschaft retten.
Neufahrn bei Freising Von dem Schaukasten, in dem einmal die Speisekarte aushing, ist nur noch ein rostiger Rahmen übrig. Die Fenster der Gaststätte sind verrammelt, Efeu wuchert die Fassade empor. Vom Namen des einstigen Lokals sind lediglich einige wenige Buchstaben lesbar, die Farbe der restlichen ist längst abgeblättert. Es ist ein Bild, wie es wohl viele ehemalige Dorfwirtschaften in Bayern abgeben könnten. Gasthäuser, die über viele Jahrzehnte der wichtigste Treffpunkt für die Menschen im Ort waren. Für die es jedoch keine Zukunft mehr gibt und deren leere Hüllen nun verfallen und verrotten.
Nicht erst seit Corona haben es viele Dorfwirtschaften in Bayern schwer. Immer mehr müssen schließen, Schätzungen zufolge hat der Freistaat in den vergangenen zehn Jahren etwa ein Viertel seiner Gasthäuser auf dem Land verloren. Die Gründe sind meist ähnlich: Das Geschäft läuft nicht mehr rentabel, es kommen zu wenig Gäste, die Wirtsleute finden keine Nachfolgerin und keinen Nachfolger, die beziehungsweise der den Betrieb übernimmt. Es bleibt nichts anderes übrig, als den Betrieb zu schließen.
In Giggenhausen, einem Ortsteil der Gemeinde Neufahrn bei Freising, will man es soweit jedoch gar nicht erst kommen lassen. Als vor einem Jahr klar war, dass es für das Wirtshaus im Ort, den Metzgerwirt, keine Zukunft mehr gibt, taten sich Bürgerinnen und Bürger zusammen, um die Gaststätte zu retten. Team Dorfwirtschaft nennen sie sich und sprechen von ihrem Metzgerwirt mit seiner 150-jährigen Geschichte als „Seele des Dorfes“. Sie wollen das Lokal nun selber kaufen und dafür eine Genossenschaft gründen. Der Kaufpreis beträgt 2,5 Millionen Euro, etwa 500000 Euro sind für Renovierungen eingeplant. Mindestens eine Million Euro Eigenkapital brauchen die Retter, der Rest könnte über Kredite finanziert werden.
Mit ihrem Engagement ist das Giggenhauser Team Dorfwirtschaft nicht allein. Immer wieder tun sich in Bayern Menschen zusammen, die das Aus ihrer Dorfgaststätte verhindern wollen. So geschehen zum Beispiel auch in Asten, einem Ort im oberbayerischen Landkreis Traunstein, der 2012 sein gleichnamiges Restaurant vor dem Ende bewahrte. Oder auch in Altenau im Landkreis Garmisch-Partenkirchen, wo sogar zwei Genossenschaften dem ehemaligen Gasthaus zur Post eine Zukunft bescherten, das zuvor zehn Jahre lang leer stand und das 2014 als „Altenauer Dorfwirt“wieder eröffnet wurde.
Wie schwierig das Überleben für viele Dorfwirtschaften ist, hat vor einigen Jahren auch der bayerische Wirtschaftsminister Huber Aiwanger (Freie Wähler) erkannt. 2019 brachte er deshalb das Gaststättenmodernisierungsprogramm auf den Weg. 15 Millionen Euro wollte er jährlich dafür zur Verfügung stellen, es sollte kleinere Gasthäuser außerhalb von Großstädten unter 100000 Einwohnern mit einem Fördersatz von 40 Prozent bei Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen unterstützen.
Zum 31. Dezember 2020 ist das Programm ausgelaufen, wie eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums nun erklärt. 30 Millionen Euro seien in diesem Rahmen für bayerische Gaststätten zur Verfügung gestellt worden. Doch die Auszahlung nehme einige Zeit in Anspruch, so die Sprecherin. „Die zuständige Bezirksregierung kann die Förderung nämlich erst nach Abschluss und Prüfung des jeweiligen Vorhabens auszahlen. Deshalb wurden bisher circa 50 Prozent der Fördermittel abgerufen.“
Um Wirtsleute weiterhin zu unterstützen, müsste jedoch noch mehr passieren, fordert Thomas Geppert, Geschäftsführer des bayerischen Hotel- und Gaststättenverbandes Dehoga. „Ich bin überzeugt, dass die Dorfwirtschaft Zukunft hat und man gutes Geld damit verdienen kann. Aber dafür muss die Politik die richtigen Rahmenbedingungen schaffen.“Geppert zählt einige Beispiele auf, wie Wirten und Wirtinnen geholfen werden könnte: eine Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes etwa, bessere Verdienstmöglichkeiten für Mini-Jobber, eine Entfristung der Mehrwertsteuersenkung auf sieben Prozent bei Speisen und mehr Bürokratieabbau. „Das sind alles Dinge, die es schwierig machen“, sagt er. „Dabei hat allein Corona gezeigt: Sind die Wirtshäuser erst mal weg, merken wir, wie sehr wir sie vermissen.“
Wie viele bayerische Dorfwirtschaften kurz vor dem Aus stehen, das weiß auch Daniela Sandner vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege. Sie sagt: „Corona hat wohl vielen den Todesstoß versetzt. Doch das Wirtshaussterben hat eigentlich lange vorher begonnen.“
Um das genauer zu erklären, geht Sandner in der Zeit viele Jahrzehnte zurück, in die 1870er-Jahre. „Im Zuge der Gewerbefreiheit sind damals viele Gasthäuser am Land entstanden, woraus sich das Stereotyp der typischen bayerischen Dorfwirtschaft, wie wir sie heute kennen, entwickelt hat.“Doch bereits um 1900 hätten viele Wirte wieder aufgegeben. „Es gab einfach zu viel Angebot und nicht alle konnten sich durchsetzen.“Noch mal schwieriger für die verbleibenden Wirtsfamilien wurde es dann zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren, erklärt Sandner. Einer Zeit, in der die Landwirtschaft immer mehr an Bedeutung verlor.
Viele Bauernfamilien unterhielten gleichzeitig einen landwirtschaftlichen Betrieb und ein Wirtshaus im Ort, häufig sogar auf demselben Anwesen. Doch diese Verbindung von Land- und Gastwirtschaft verlor in dieser Zeit nach und nach an Bedeutung, erklärt Sandner. „Außerdem nahm die Konkurrenz drastisch zu. Es wurden eigene Vereinsheime eröffnet, es kamen Cafés und Tanzlokale dazu und viele Gastarbeiterfamilien gründeten Pizzerien und griechische Restaurants. Der Gast hatte plötzlich viel mehr Auswahlmöglichkeiten.“
Auch die Bedürfnisse der Menschen veränderten sich. Plötzlich hatten viele Leute ein Auto und waren mobil, Einfamilienhäuser boomten, die Menschen trafen sich öfter zu Hause und besuchten sich gegenseitig. „Früher war man auf den Zusammenhalt in der Dorfgemeinschaft viel stärker angewiesen, auf die Kontakte und auch auf die Wirtschaftsbeziehungen, die man im Gasthaus knüpfte und pflegte. Das ist heute ganz anders, das wird einfach nicht mehr so gebraucht wie noch vor hundert Jahren.“
Mit bitteren Folgen, wie Daniela Sandner findet. „Wenn man über das Land fährt, ist es für mich wirklich schlimm mitanzusehen, wie in so vielen Orten die Wirtshäuser verfallen wie Ruinen.“Eine Sorge, die auch die Menschen in Giggenhausen umtreibt – doch für die das Team Dorfwirtschaft vermutlich einen Ausweg gefunden hat. Mit seiner Rettungsaktion scheint es nun Erfolg zu haben. Eine Million Euro für den Metzgerwirt haben die Bürgerinnen und Bürger mithilfe von Spenden und Sponsoren bereits zusammen. Ein erster Schritt, damit in dem Schaukasten am Eingang irgendwann einmal wieder eine Speisekarte aushängen kann.