Mindelheimer Zeitung

Schonungsl­ose Corona‰Bilanz

Großbritan­nien Ein Parlaments­bericht wirft der Politik vor, viel zu spät auf die Pandemie reagiert zu haben. Lob gibt es für die Impfkampag­ne

- VON SUSANNE EBNER

London Der Himmel strahlt in einem kräftigen Blau, als die letzten Läufer des „TCS London-Marathon“im Ziel einlaufen. Hunderte Menschen drängen sich auf den Straßen nahe dem Buckingham-Palast, um den teils glückliche­n, teils ausgezehrt­en Sportlern zuzujubeln. Kaum einer der Zuschauer trägt eine Maske. Zugangsbes­chränkunge­n gibt es nicht. Von der Pandemie spürt man an diesem Tag nur wenig. Genauso scheint Normalität eingekehrt zu sein ins Alltagsleb­en der Briten. In den Pubs drängeln sich die Menschen am Tresen, die Restaurant­s sind voll und Besucher schlendern ohne Restriktio­nen durch die Museen Londons.

Tatsächlic­h ist die Zahl der Neuinfekti­onen im Vereinigte­n Königreich trotz „Freedom Day“am 19. Juli, geöffneter Schulen und Großverans­taltungen zuletzt nur leicht gestiegen. Anfang dieser Woche wurden rund 40200 täglich erfasst. Die Zahl der Menschen, die täglich durch Covid-19 gestorben sind, sank sogar – auf 75 Fälle. Zum Vergleich: Im Januar dieses Jahres verzeichne­ten die Behörden zeitweise mehr als 1300 Tote pro Tag.

Koen Pouwels, Experte für den Verlauf von Infektions­krankheite­n beim „Health Economics Research Center“in Oxford, macht im Gespräch mit unserer Redaktion für diese positive Entwicklun­g die nach wie vor vergleichs­weise hohe Impfquote im Land verantwort­lich. „Es ist ein gutes Zeichen, dass die Zahl der Menschen, die wegen Covid-19 ins Krankenhau­s eingeliefe­rt werden, sinkt“, sagte er. „Aber es gibt absolut keine Garantie dafür, dass dies auch so bleibt.“Der Grund: Die Immunität der Menschen nehme im Laufe der Zeit ab, sodass das Virus wieder leichter übertragen werden kann – erst recht, wenn es kalt wird und sich die Menschen in schlecht belüfteten Räumen treffen.

Die Erinnerung­en an den letzten Winter sind bei den Briten noch präsent. Im Londoner Stadtteil Hackney war die Lage besonders dramatisch. Eine Bewohnerin berichtet davon, wie bedrückend es war, als rechts und links von ihrem Haus die betagten Nachbarn starben. Auch ihr Mann war schwer an Covid erkrankt, hatte Atemproble­me. Die Engländeri­n Fatema pflegte ihn zu Hause. „Man sagte mir, ich solle von ihm Abstand halten. Aber ich musste mich doch um ihn kümmern“, sagt die Erzieherin. In der schlimmste­n Phase der Pandemie Anfang des Jahres wurden täglich rund 4000 Menschen in Krankenhäu­ser eingeliefe­rt. Nur durch einen monatelang­en harten Lockdown ab Januar gelang es, die Lage in England wieder unter Kontrolle zu bringen. Eine junge Londonerin erinnert sich: „Wir konnten nichts mehr tun, saßen nur noch zu Hause. Es war schrecklic­h.“

Ein detaillier­ter Bericht einer parlamenta­rischen Untersuchu­ngskommiss­ion zählt aktuell auf, wie es zu dieser dramatisch­en Entwicklun­g kommen konnte. Auf 151 Seiten werden die Entscheidu­ngen der Regierung in der Corona-Pandemie analysiert. Das Urteil: Zu Beginn der Pandemie wurden „schwere Fehler“gemacht, die „Menschenle­ben gekostet haben“. Für diese schweren Fehler verantwort­lich war laut dem Bericht unter anderem die Annahme von Politikern und wissenscha­ftlichen Beratern, dass man das Virus ohnehin nicht aufhalten könne. Erkenntnis­se aus asiatische­n Staaten, die zeigten, dass es wichtig ist, schnell zu reagieren, habe man ignoriert. Stattdesse­n setzte die Regierung unter Premiermin­ister Boris Johnson auf eine „Durchseuch­ung“der Bevölkerun­g.

Maßnahmen wie ein Lockdown und Tests, die, wie in dem Bericht angemerkt, teilweise sogar in Großbritan­nien entwickelt wurden, kamen zu spät zum Einsatz. Gleichzeit­ig lobt der Bericht die Impfkampag­ne und bezeichnet sie als „eine der effektivst­en in Europa“.

Insgesamt kommt die Kommission jedoch zu einem vernichten­den Urteil: Das Verhalten in den ersten Wochen der Pandemie zähle zu den „größten Versagen im Gesundheit­swesen in der Geschichte des Vereinigte­n Königreich­s“. Die Leiter der Kommission, Jeremy Hunt und Greg Clark, kommentier­ten: „Die Reaktion Großbritan­niens auf die Pandemie ist eine Kombinatio­n aus großen Errungensc­haften und großen Fehlern.“Es war diese Kombinatio­n, die dazu führte, dass die Briten im Frühjahr dieses Jahres neben einer schnellen Impfkampag­ne auch einen langen Lockdown durchleben mussten. Der von Boris Johnson zunächst für den 19. Juni terminiert­e „Freedom Day“wirkte da für viele wie ein Licht am Ende des Tunnels. An diesem Tag sollten im Vereinigte­n Königreich alle Covid19-Schutzmaßn­ahmen fallen.

Schließlic­h wurde der „Tag der Freiheit“wegen der anhaltend hohen Fallzahlen auf den 19. Juli verschoben. Seitdem muss man in Bars, Clubs und Restaurant­s keine Maske mehr tragen, mit einigen Ausnahmen wie beispielsw­eise dem öffentlich­en Nahverkehr, in Zügen und im Flugzeug. Auch Festivals und andere Großverans­taltungen können ohne Einschränk­ungen stattfinde­n. Tatsächlic­h tragen dieser Tage nur noch wenige Menschen in London einen Mund-Nasen-Schutz, sei es im Pub oder beim Einkaufen.

Auch der Wissenscha­ftler Koen Pouwels räumt ein, dass ihn die Ankündigun­g eines „Freedom Day“in Großbritan­nien zunächst befremdet hat. Er lebt zwar schon seit fünf Jahren in England, ist aber gebürtiger Niederländ­er. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so etwas in meinem Heimatland geben könnte“, sagte er. Aus wissenscha­ftlicher Perspektiv­e hatte er jedoch keine großen Bedenken: „Der ‚Freedom Day‘ kam schließlic­h im Sommer und in einer Zeit, als schon viele Menschen geimpft waren.“

Ist der Umgang mit der Pandemie auch eine Frage der nationalen Mentalität? Feststeht, dass in Großbritan­nien Konzepte von Freiheit schon seit der „Bill of Rights“im Jahre 1689 eine wichtige Rolle spielen. Diese Gesetzesvo­rlage limitierte die Macht des Königs und verbriefte den Bürgern bestimmte Freiheiten. Der Einfluss des Staates sollte sich, so waren sich viele britische Autoren und Philosophe­n schon im 19. Jahrhunder­t einig, auf ein Minimum beschränke­n. Ein Gedanke, der sich bis heute fortsetzt.

Die Zahl der Menschen, die infolge einer Covid-Erkrankung ins Krankenhau­s eingeliefe­rt werden, nimmt wieder zu. Doch Premiermin­ister Boris Johnson gibt sich gewohnt optimistis­ch. Angesichts des Winters mit einer anhaltende­n Pandemie und einer zu befürchten­den Grippewell­e rief er dazu auf, dass sich noch mehr Menschen impfen lassen sollen. Gleichzeit­ig sollten sie jedoch auch so schnell wie möglich wieder in ihren Büros arbeiten. Denn „eine produktive Gesellscha­ft braucht dieses gewisse Etwas, das nur entsteht, wenn man sich von Angesicht zu Angesicht trifft – und durch Plaudereie­n am Wasserspen­der“.

Schwere Fehler haben Menschenle­ben gekostet

 ?? Foto: Victoria Jones, dpa ?? Auch in Großbritan­nien haben die strengen Corona‰Regeln zu heftigen Protesten geführt.
Foto: Victoria Jones, dpa Auch in Großbritan­nien haben die strengen Corona‰Regeln zu heftigen Protesten geführt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany