Der swingende Provokateur
Porträt Wynton Marsalis ist nicht nur ein begnadeter Jazzmusiker, sondern auch eine politische Reizfigur. Wehe dem, der seinen Wertekanon nicht teilt
Sein musikalisches Talent zum Beruf machen können – das bedeutet für viele die Erfüllung eines Traumes. Für einen wie Wynton Marsalis reicht das aber noch lange nicht. Er wollte immer schon mehr: Strippen ziehen, Allianzen schmieden, den Lauf der Dinge beeinflussen, Schlüsselpositionen besetzen, Macht ausüben, kurzum: so etwas Ähnliches wie Politiker sein.
Bei ihm geht das auch ohne Mandat. Der alerte amerikanische Trompeter, der an diesem Montag unter maximaler öffentlicher Anteilnahme in der Berliner Philharmonie bei einem Konzert mit seinem Jazz At Lincoln Center Orchestra seinen 60. Geburtstag feiert, ist der vielleicht einflussreichste und gleichzeitig umstrittenste Musiker dieses Planeten. Seit drei Jahrzehnten meldet er sich regelmäßig zu Wort, prügelt verbal auf alles ein, was nicht seinem Wertekanon entspricht, lässt an den führenden Parteien seines Landes kein gutes Haar, beschimpft amtierende Präsidenten, Fox News, CNN, Linke wie Rechte, und erteilt den Menschen subtile Lektionen über die korrekte Definition von Musik. Trotzdem oder gerade deshalb sitzt er fester denn je im Sattel, sowohl was seinen Lebensjob als künstlerischer Leiter des Jazz At Lincoln Center in New York wie auch die eigene Karriere angeht.
Wenn Donald Trumps stärkste Waffe im Kampf um die politische Deutungshoheit Twitter war, dann ist es bei Wynton Marsalis definitiv die Musik. Na ja, eigentlich der Swing, denn der hochtalentierte Zweitgeborene der berühmten Musikerfamilie Marsalis aus New Orleans, sieben Jahre mit einer Schauspielerin verheiratet und Vater eines Sohnes, sieht sich selbst als Lordsiegelbewahrer des Jazz, den er als uramerikanisches Kulturgut preist, auch wenn er gerne europäische Trompetenkonzerte von Haydn, Hummel oder Leopold Mozart aufnimmt.
Er verabscheut Avantgardeund Jazzrock-Kapriolen, Hip Hop und Pop. Bei ihm endet die goldene Ära des Jazz mit Charlie Parker, eventuell noch beim frühen Miles Davis oder John Coltrane. Alles afroamerikanische Musiker. In seiner Anfangszeit am Lincoln Center besetzte er sein Orchester ausschließlich mit schwarzen Instrumentalisten – eine Gegenreaktion auf „rassistische“Jazzkritiker – worauf ihn unter anderem der (schwarze) Pianist Matthew Shipp und der (jüdische) Saxofonist John Zorn einen „Faschisten“nannten. Heute ist das anders: In Berlin betritt das Jazz At Lincoln Center Orchestra mit einer ausgewogenen Mischung aus schwarzen und weißen Musikern die Bühne.
Nach mehr als 100 Alben unterstützt Wynton Marsalis jetzt die „Black Lives Matter“-Bewegung. Sein aktuelles Album ist – natürlich – wieder ein hoch politisches: „The Democracy! Suite“(Blue Engine Records). Und seine darauf enthaltene Losung dürfte sogar in jeder Hinsicht konsensfähig sein: „Wir leben in einer Demokratie und wir sollten darum kämpfen!“