Mindelheimer Zeitung

Heile Welt, bedrohte Welt

Klimakrise Wer an Kanada denkt, hat unberührte Natur vor Augen. Doch es gibt massive Umweltprob­leme. Symbol dafür ist eine Pipeline, in der Öl bis an die Küste gepumpt wird. Ureinwohne­r kämpfen gegen sie an. Und dabei geht es um weit mehr als um Naturschu

- VON MARTIN HOGGER

„Wasser ist etwas Heiliges für uns“, sagt Kayah George

„Trudeaus Klimaplan hat gute Punkte“, sagt Aaron Cosbey

Vancouver Unter den Indigenen Kanadas wird Wissen durch Geschichte­n weitergege­ben. Vor allem die „Elders“genannten Mitglieder des jeweiligen Volkes – lebenserfa­hren und hochgeschä­tzt – erzählen sie den Kindern, bis diese selbst älter werden und ihr Wissen weitergebe­n. Es ist ein Kreislauf wie der Kreislauf der Natur. Auch Kayah George erzählt nun eine Geschichte. Es ist die ihres Volkes, der TsleilWaut­uth Nation, dessen Land am Fjord Burrard Inlet bei Vancouver liegt. Nahe einer Ölraffiner­ie, in der die Trans Mountain Pipeline durch Kanada endet.

Kayah George ist 23 Jahre alt, schon als Kind kämpfte sie gegen die Ölleitung, die zu einem Symbol geworden ist. Sie steht gleicherma­ßen für Kanadas Wirtschaft­skraft wie für den problemati­schen Umgang des nordamerik­anischen Staates mit der Natur.

Kayah George arbeitet für die gemeinnütz­ige Indigenous Climate Action. Die Organisati­on strebt nach „Klimagerec­htigkeit“. Sie will eine neue Generation Indigener inspiriere­n, die Lösungen für die Klimakrise finden sollen – im Einklang mit ihrer Kultur und Tradition. Denn die sind in Kanada – diesem aus der Ferne für manchen so naturbelas­senen, intakten Land – genauso bedroht wie die Umwelt.

„Mein Volk entstammt dem Wasser“, beginnt Kayah George zu erzählen. „Das Volk aus der Bucht: Das ist die Bedeutung unseres Namens.

Dort ging unser erster Urahn die Küste entlang. Er hatte all die Wale gesehen, all die Vögel und all die Adler. Aber er fühlte sich allein, er wollte nicht mehr alleine sein. Also betete er, und plötzlich verspürte er den Drang, ins Meer zu springen. Er tauchte ein, holte den Lehm vom Boden und formte, zurück am Strand, eine Frau. Erst dann schlief er ein, und am nächsten Morgen war die Frau echt geworden. Unsere Großmutter.“

Kayah George lacht an dieser Stelle. Sie musste eben daran denken, wie sie als Kind die Geschichte zum ersten Mal hörte und ihren Vater fragte, warum die Frau aus Schlamm sein müsse. Er habe ihr geantworte­t, sie alle seien aus Schlamm, sie alle seien aus dem Meer. „Das Wasser hier ist deshalb etwas Heiliges für uns. Wir haben eine physische und spirituell­e Verbindung“, erklärt sie. Die Trans Mountain Pipeline gefährdet dieses Heilige. Seit 1953 gibt es die 1150 Kilometer lange Pipeline bereits. Durch sie wird unter anderem das aus Ölsand aufwendig gewonnene Rohöl aus der Provinz Alberta in Richtung Vancouver an die Küste gepumpt. Zuvor muss – wie beim Braunkohle­abbau – Wald gerodet, Boden abgetragen, der Ölsand gehoben und weitervera­rbeitet werden: zerkleiner­n, Steine weg, Sand weg. Dafür wird viel Wasser benötigt.

84 Öl-Unfälle hat es seit Errichtung der Trans Mountain Pipeline gegeben – Unfälle von Tankern, die das Öl weitertran­sportieren, nicht mitgerechn­et. Die Ölgewinnun­g, die Pipeline, die Tanker – sie greifen tief ein ins Leben der Tsleil-Waututh Nation, machen Fischerei und Muschelern­te fast unmöglich. Und das, wo die Ureinwohne­r doch traditione­ll nur das der Natur entnehmen möchten, was sie brauchen.

Es gibt eine alte Geschichte, nach der die ersten weißen, europäisch­en Einwandere­r nicht in die Bucht von Vancouver einfahren konnten, weil ihre Schiffe in Fischschwä­rmen stecken blieben. Von dieser Fülle ist wenig übrig. Das Volk von Kayah George hat einen ausführlic­hen Bericht dazu veröffentl­icht, wie Tanker und Öl seit Jahrzehnte­n die Bucht verschmutz­en. Und es reagierte notgedrung­en auf die Entwicklun­g, indem es sich für Tourismus öffnete und auf „grüne“Energie setzte. Das helfe. Aber aus kulturelle­n, spirituell­en und Gesundheit­swie Umweltschu­tzgründen sei das kein Ersatz für die traditione­lle Art des Lebens und Wirtschaft­ens, finden viele aus Kayah Georges Volk. Sie selbst sagt: „Die Pipeline ist nichts anderes als ein Genozid.“

Das so idyllische, so riesige, so dünn besiedelte Kanada mit seinen dutzenden Nationalpa­rks hat ein gewaltiges Umweltprob­lem, auf das hierzuland­e immer wieder einmal hingewiese­n wird. 2014 etwa erklärte die Organisati­on Greenpeace: „In Alberta, der reichsten Provinz Kanadas, liegt das zweitgrößt­e Ölvorkomme­n der Welt neben Saudi Arabien. Doch das Öl ist vermischt mit Ton und Sand. Die Förderung hinterläss­t unvorstell­bare Schäden an der Umwelt.“Ohne Rücksicht auf Verluste werde nach dem schwarzen Gold gebuddelt. Die Liste der Schäden sei lang: Waldrodung, erhebliche­r Energie- und Wasserverb­rauch, Freisetzun­g von Treibhausg­asen, Versauerun­g der Böden und Wälder, Giftstoffp­roduktion, Erkrankung­en von Mensch und Tier. kürzlich konnte man lesen: Kanada erwärmt sich doppelt so schnell wie der Rest der Welt.

Die Trans Mountain Pipeline wird dennoch kräftig erweitert – um fast tausend Kilometer. Zwölf neue Pumpwerke sollen gebaut werden, drei neue Anlegeplät­ze für Tanker im Hafen von Burnaby östlich von Vancouver entstehen. Damit steigt die Zahl der Öltanker – und die Wahrschein­lichkeit von Umweltkata­strophen. Anderersei­ts sollen neue Märkte in Asien, Australien und Ozeanien erschlosse­n werden. Auf der Homepage der Trans Mountain Corporatio­n, die die Pipeline betreibt, heißt es: Länder in der Weltregion Asien-Pazifik entwickelt­en denselben Lebensstan­dard wie den, den man in Kanada genieße – sie müssten hierfür ihre Energiever­sorgung sicherstel­len.

Vorangetri­eben wird das Projekt von der kanadische­n Regierung – und ausgerechn­et auch mithilfe von mehr als tausend indigenen Bauarbeite­rn. Ein Widerspruc­h nur auf den ersten Blick: Kanada ist zwar reich an Bodenschät­zen, doch Armutsfors­cherinnen und -forschern zufolge lebt einer von vier indigenen Erwachsene­n in Armut, bei den Kindern sind es vier von zehn.

„Der Grund, warum noch heute so viele indigene Gemeinscha­ften wirtschaft­lich zu kämpfen haben, liegt in ihrer Vergangenh­eit“, sagt Raymond Frogner. Er leitet das Archiv des Nationalen Zentrums für Wahrheit und Versöhnung in Winnipeg, das geschaffen wurde, um über das System der „Residentia­l Schools“aufzukläre­n. An den Schulen, die überwiegen­d katholisch­e Kirchen- und Ordensleut­e führten, wurden nach der Staatsgrün­dung im Jahr 1867 Kinder der Ureinwohne­r umerzogen – und systematis­ch sexuell missbrauch­t. Man habe die Indigenen in ihren Reservaten und auch wirtschaft­lich „unten“halten wollen, sagt Frogner. 1,7 Millionen der etwa 38 Millionen Kanadier haben indigene Wurzeln. Und viele haben noch heute mit diesem Teil der Geschichte und dessen Folgen zu kämpfen: Arbeitslos­igkeit, Obdachlosi­gkeit, Drogenprob­leme.

Alles hängt mit allem zusammen, auch dafür ist die Trans Mountain Pipeline ein Beispiel: Sie wird auf einem Gebiet ausgebaut, das sich rund um die Stadt Kamloops in der ProErst vinz British Columbia befindet. Dort waren, auf dem Gelände einer ehemaligen Schule, die Gräber von 215 Kindern entdeckt worden. Die Gemeinscha­ft Tk’emlups te Secwepemc First Nation machte den Fund vor ein paar Monaten öffentlich.

Die vierhunder­t Kilometer von Vancouver dorthin führen über leere Straßen, vorbei an Blaubeerfe­ldern, durch mit Tannen bewachsene Schluchten und unwirtlich­e Steinwüste­n. 78 Prozent der Simpcw, die zu den Secwepemc gehören, haben nach zwei Jahren Verhandlun­gszeit dem Ausbau der Pipeline zugestimmt. Darüber sprechen wollen sie nicht. Chief Nathan Matthew sagte einmal: „Wenn das Projekt nicht fortgesetz­t wird, werden wir Chancen verpassen, für die wir hart gearbeitet haben.“Zuvor hatte Kanadas Premiermin­ister Justin Trudeau ähnlich gesagt: „Wir brauchen Ressourcen, um sie in die Kanadier zu investiere­n, damit sie die Chancen nutzen können, die sich durch eine sich schnell verändernd­e Wirtschaft hier im Land ergeben.“

4,5 Milliarden kanadische Dollar zahlte die Regierung 2018 an ein US-Unternehme­n für die Pipeline, für die Erweiterun­g könnten zwölf Milliarden, das sind umgerechne­t gut acht Milliarden Euro oder mehr anfallen. 1,4 Milliarden kanadische Dollar seien bisher an indigene Gemeinscha­ften entlang der Pipeline ausgezahlt worden, heißt es. Der Ausbau kam immer wieder zum Erliegen. Auch weil Aktivistin­nen und Aktivisten Baumhäuser errichtete­n – wie in Deutschlan­d, gegen die Abholzung des Hambacher Forsts für den Braunkohle­abbau.

Weiter nach Calgary, der mit mehr als 1,2 Millionen Einwohneri­nnen und Einwohnern größten Stadt der Provinz Alberta. Eine Stadt des Öls, die vor 20 Jahren wegen des hohen Ölpreises regelrecht im Geld schwamm. Doch dem Auf folgte ein Ab. Heute steht laut Nachrichte­nsender CBC etwa jedes dritte Büro leer. In Calgary befindet sich die Zentrale der Trans Mountain Corporatio­n, und Aaron Cosbey lebt in der Nähe. Er ist einer von Kanadas renommiert­esten Umweltökon­omen. Er sagt: „Calgary setzt voll auf die Ölindustri­e. Damit ist das Risiko groß, dass sie eine Ziehharmon­ika-Stadt wird, wie so viele hier in Kanada. In guten Zeiten bläht sie sich auf, in schlechten Zeiten geht sie ein.“

Das verheißt nichts Gutes, denn die wirklich schlechten Zeiten könnten erst noch kommen. Nach Jahrzehnte­n, in denen die Politik die Öl- und Gasindustr­ie förderte, vollzieht der Premiermin­ister jetzt einen spürbaren Kurswechse­l. Zumindest hat er große Pläne. „Trudeaus Klimaplan hat viele gute Punkte, der wichtigste ist: harte Obergrenze­n für den CO2-Ausstoß, die kontinuier­lich strenger werden – bis Kanada CO2-neutral ist“, sagt Cosbey. Auch an die massiven Subvention­en für die Öl- und Gasindustr­ie will Trudeau heran und erneuerbar­e Energien und Technologi­en voranbring­en. Doch Worte und Taten – Pipeline-Ausbau und ehrgeizige Klimaziele – klaffen auseinande­r.

Für Zain Haq, Aktivist der Umweltschu­tzbewegung Extinction Rebellion, ist das offensicht­lich. Er blockiert den Ausbau der Trans Mountain Pipeline, lässt sich verhaften, nur um kurz danach wieder vor den Baggern zu sitzen. In einer Videoschal­te erzählt er von zerstörten Protest-Camps und der Polizei, die brutal vorgehe. „Wir leben alle in einer Gesellscha­ft, die sich auf eine gute Zukunft verlässt. Wir gehen an die Uni, weil wir später einen guten Job wollen, um nochmals später gutes Geld zu verdienen. Aber alles, wofür wir jetzt arbeiten, wird nichts bedeuten, wenn die Politik nicht in den nächsten fünf Jahren signifikan­t umschwenkt, um das Pariser Klimaabkom­men einzuhalte­n“, sagt er. „Aber das sehe ich nicht.“

Der Climate Action Tracker, eine unter anderem vom Potsdam-Institut für Klimafolge­nforschung erstellte Internetse­ite zum Thema globale Erderwärmu­ng, liefert die passende unabhängig­e wissenscha­ftliche Einschätzu­ng dazu: Kanadas Bemühungen um Klimaschut­z werden auf ihr als „höchst ungenügend“eingestuft.

Kayah George vom Volk der Tsleil-Waututh sagt: „Die Regierung ist in Apathie, was die Klimakrise angeht.“Von der Tsleil-Waututh Nation wird sie inzwischen wegen der Trans Mountain Pipeline verklagt. Das Volk will nicht so lange warten, bis die Pipeline irgendwann kein Öl mehr führt, weil die Vorkommen erschöpft sind oder sich die Förderung wirtschaft­lich nicht mehr lohnt; oder bis „grüne“Energien Öl und Gas ersetzt haben. Nur dies scheint gewiss: Kayah George wird eines Tages zu jenen gehören, die den Kindern ihres Volkes von der Bewahrung der Natur und ihrem Kampf gegen die Trans Mountain Pipeline erzählen wird.

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Foto: D. Dyck/The Canadian Press, dpa Demonstran­ten bauen bei der Stadt Burnaby einen Beobachtun­gsstand: Sie kämpfen gegen den Ausbau der Trans Mountain Pipeline.
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Foto: Kayah George Kayah George vom Volk der Tsleil‰Waututh will sich in ihrem Kampf für die Umwelt Gehör verschaffe­n.

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