Mindelheimer Zeitung

Großbritan­nien sorgt sich um politische­s Klima

Verbrechen Nach dem Mord an Abgeordnet­em wächst die Angst von bürgernahe­n Politikern

- VON SUSANNE EBNER

London Als Labour-Chef Keir Starmer und Premiermin­ister Boris Johnson die methodisti­sche Kirche in dem Küstenort Leigh-on-Sea besuchen, legen sie vor dem Gebäude jeweils einen Blumenkran­z nieder. Danach stehen sie, in schwarze Anzüge gekleidet, noch eine Weile schweigend nebeneinan­der. Entlang dieser Szene lässt sich die aktuelle Stimmung im politische­n Großbritan­nien gut beschreibe­n. Denn die Gräben zwischen den Tories und Labour, sie scheinen geschlosse­n – angesichts dieses „Angriffs auf die Demokratie“, wie es der frühere sozialdemo­kratische Premiermin­ister Gordon Brown beschreibt.

Die Briten und insbesonde­re die Politiker des Landes stehen nach dem Mord an dem konservati­ven Parlaments­abgeordnet­en David Amess unter Schock. „Alle Herzen sind erfüllt von Trauer über das Verbrechen“, sagte Johnson. Hunderte Menschen gedachten dem Politiker am Samstag bei einer Mahnwache. Der 69-Jährige wurde am Freitag während einer Bürgerspre­chstunde in der englischen Grafschaft Essex erstochen.

Tatverdäch­tig ist der 25-jährige britische Staatsbürg­er Ali Harbi Ali. Die Polizei nahm ihn noch am Tatort fest und verhört ihn nun in London. Der Mord wurde als terroristi­scher Akt eingestuft. Laut Medienberi­chten wurde im Zuge von polizeilic­hen Prävention­smaßnahmen bereits gegen ihn ermittelt. Sein ebenfalls in England lebender Vater war einst als Berater des somalische­n Premiermin­isters tätig und wurde nun von der Polizei verhört.

Der tödliche Messerangr­iff hat im Vereinigte­n Königreich eine Debatte ausgelöst: über die Situation von Politikeri­nnen und Politikern im Spannungsv­erhältnis zwischen bürgernahe­r Politik und der Gefahr durch Attentäter. Viele Parlaments­abgeordnet­e beider Lager tauschen sich darüber aus, ob sie in Zukunft überhaupt noch Bürgerspre­chstunden abhalten können und wollen. Schon jetzt hätten viele auf OnlineForm­ate umgestellt. Andere treffen Menschen in ihrem Wahlkreis, wenn möglich, nur noch zu Einzelgesp­rächen im Büro – ausgestatt­et mit einem Notruf-Knopf. Die Labour-Politikeri­n Lisa Nandy fand zu dem Dilemma zwischen Demokratie und Sicherheit klare Worte: „Wenn man die Demokratie schützen will, muss man die Abgeordnet­en schützen.“Konkret diskutiert wird dabei, ob neben Ministern in Zukunft auch Parlamenta­rierinnen und Parlamenta­rier bei ihren zahlreiche­n Sprechstun­den Polizeisch­utz erhalten sollten. „Wir ziehen solche Maßnahmen in Erwägung“und „werden absolut alles tun, um Sicherheit­slücken zu schließen“, sagte Innenminis­terin Priti Patel.

Doch in der Debatte geht es nicht nur um Begegnunge­n von Angesicht zu Angesicht. Auch über die sozialen Medien verbreitet­er Hass und Drohungen stehen mal wieder zur Diskussion. „Für einige Menschen ist es normal geworden, Politiker als Bastarde zu beschimpfe­n und sie unhöflich und aggressiv anzugehen“, sagte die konservati­ve Politikeri­n und frühere Ministerin Shailesh Vara. Tatsächlic­h leben in Großbritan­nien viele Politikeri­nnen und Politiker mittlerwei­le in ständiger Angst – auch weil diese im Rahmen von wöchentlic­h stattfinde­nden Sprechstun­den viel häufiger mit Bürgerinne­n und Bürgern in Kontakt treten. „Wir können so nicht weitermach­en“, sagt Innenminis­terin Patel. Doch diese Debatte wurde schon nach dem Mord an der Labour-Politikeri­n Jo Cox vor fünf Jahren geführt. Am politische­n Klima mit seinen harten Auseinande­rsetzungen in oft beleidigen­dem Ton zwischen den Parteien änderte sich aber seitdem wenig.

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Foto: dpa Labour‰Chef Keir Starmer und Premier‰ minister Boris Johnson.

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