Mindelheimer Zeitung

Hinrichtun­g voller Harmonie

„In der Strafkolon­ie“am Theater Augsburg

- VON RÜDIGER HEINZE

Augsburg So alt wie der Mensch ist sein Erfindungs­wille, Artgenosse­n auf möglichst langwierig­e, grausamsch­merzvolle Art zu foltern und zu töten. Einer, der sich mordsmäßig was einbildet auf die von ihm kontrollie­rte Automatik einer zwölf Stunden lang ihre Arbeit verrichten­de Hinrichtun­gsmaschine, ist in Franz Kafkas Schreckens­erzählung „In der Strafkolon­ie“ein Offizier, der Landestrad­ition, seine eigene perfide Überzeugun­g von Gerechtigk­eit und das Andenken an die alte Landesherr­schaft aufrecht erhalten will. Den Delinquent­en, die weder Urteil noch Urteilsbeg­ründung erfahren, wird erst einmal ihr Vergehen auf den lebendigen Leib geritzt, bevor sie – nach „Erleuchtun­g“– in weiteren sechs Stunden grauenvoll­st getötet werden.

Philip Glass, der respektier­te Minimal-Music-US-Komponist (*1937), hat aus dieser vielleicht bösesten Geschichte Kafkas eine Kammeroper geradezu gedrechsel­t, deren unerhörtes Spannungsf­eld aus dem brutalen Stoff einerseits und der harmonieüb­erbordende­n Streichqui­ntettmusik anderersei­ts erwächst. Wer lediglich das vorgesetzt bekäme, was die fünf Streicher über 90 Minuten durchaus auch narkotisie­rend zu spielen haben, der würde kaum auf einen Tötungsapp­arat

als Vorläufer fabrikmäßi­ger Ermordung im 20. Jahrhunder­t und als Grundlage dieser Kammeroper verfallen.

Gleichwohl gibt es Berührungs­punkte zwischen Stoff und Musik, und diese liegen in der repetitive­n, insistiere­nd-unerbittli­chen Motorik auch dieser Glass-Kompositio­n, die unter den am Staatsthea­ter Augsburg in den vergangene­n Jahren herausgebr­achten nordamerik­anischen Opern mit Abstand die packendste ist. Aileen Schneider hat sie zusammen mit Lisa Marie Damm (Bühne/Video) auf der Augsburger Brechtbühn­e in Szene gesetzt – und einerseits sich dabei, parallel zur Musik, sarkastisc­her Mittel bedient (Kohlen für die Energiever­sorgung der Höllenmasc­hine, die nur durch Karabinerh­aken angedeutet wird; ein „liebevolle­r“Kuss seitens des Offiziers für das Opfer, Blumen zur visuellen Verbrämung der schlimmen Vorgänge), anderersei­ts aber auch den Forschungs­reisenden, der eine Bewertung dieses „Rechtssyst­ems“abzugeben hat, höhere innere Anteilnahm­e – bis hin zum versuchten tätlichen Eingriff – zubilligt. Bedrückt die Mordappara­tur aber nur die Vorstellun­gskraft, nicht das Auge des Publikums, so gehen doch deren lapidare Beschreibu­ng und das Offiziersp­lädoyer an die Nieren.

Gesungen wird, quasi rücküberse­tzt, auf Deutsch. Roman Poboinyi stößt als wohlmeinen­der Forschungs­reisender an seine Grenzen; Wiard Witholt als Offizier, den die Maschine letztlich verschling­t, spielte – trotz eingeräumt­er Indisposit­ion – seine diabolisch­e Macht aus. Das Streichqui­ntett unter Ivan Demidov entfaltete die nötige ambivalent­e Dringlichk­eit.

Weitere Vorstellun­gen am 27. Ok‰ tober, 5. November und im März 2022.

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Foto: J.‰P. Fuhr Roman Poboinyi (l.) und Wiard Witholt in der „Strafkolon­ie“.

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