Triumph eines Widerständigen?
Deutscher Buchpreis Thomas Kunst ist die Überraschung unter den Nominierten. Den Literaturbetrieb verachtet er
Was hat er sich da aufgeregt! Als Thomas Kunst vor ein paar Jahren bei einer Dichterlesung in Augsburg auftrat, redete er sich in eine solche Rage über den Literaturbetrieb, dass vor allem die darin enthaltene Bitterkeit die Luft im Brechthaus übersättigte. Der Lyriker verachtete die Missachtung der Lyrik – und konnte trotzdem nicht anders als sich immer weiter dieser, seiner Liebe und Leidenschaft zum eben nicht Ein- und damit Marktgängigen zu verschreiben. Da mutet es auf den Blick fast schon bizarr an, dass ausgerechnet dieser 56-jährige Autor nun mit einem Roman unter den letzten sechs Nominierten für den Deutschen Buchpreis steht, der an diesem Montagabend bei der Frankfurter Buchmesse vergeben wird. Zeichnet sich daran eine Kapitulation ab, eine Aussöhnung oder gar funktionierendes Kalkül?
Wer dann dieses Buch namens „Zandschower Kliniken“liest, der ja beileibe nicht Kunsts erster ist, wird schnell aller Kurzschlüsse entledigt. Viel mehr passt es, dass sich dieser Autor ja im Zuge seiner Nominierung ein weiteres Mal sehr eindeutig gegen das Gängige positioniert hat, diesmal eben über den Roman und seine Form: „Wenn ich das Wort Plot schon höre, könnte ich speien.“Von linearer, stringenter Handlung im Kern also will er – gelinde gesagt – nichts wissen. Und das beweist sich dann eben auf diesen 250 Seiten auch, die nicht nur als absoluter Außenseiter bei diesem renommiertesten Preis der Branche gelten müssen, sondern auch wie ein bewusst gesetzter Kontrapunkt im Bouquet des sonst durchweg breit anerkannten Feldes wirkt, um auch Sinn für den Kunstsinn zu signalisieren (annähernd ähnlich hatte unter den 20 Büchern auf der Longlist höchstens noch Dietmar Dath mit seinem eigenwillig ausufernden „Gentzen“gewirkt). Thomas Kunst jedenfalls steht nun neben:
- Norbert Gstrein: Der zweite Jakob - Monika Helfer: Vati
- Christian Kracht: Eurotrash - Mithu Sanyal: Identitti
- Antje Rávik Strubel: Blaue Frau
Die Jury pries Thomas Kunst Werk: „‚Zandschower Klinken‘, oft einprägsam wie Musik, verströmt Freiheit auch durch seine formale Radikalität.“Das ist hübsch gesagt. Und meint: dass man in diesem Roman einem Mäandern von Motiven beiwohnt, durchdrungen von immer wieder den gleichen Sätzen, den gleichen Absätzen, den gleichen Bildern, die sich verschieben, immer wieder neu auseinander hervorgehen, anordnen, ineinandergreifen. Sie entwickeln sich aus einer Art UrSzene, in der ein Mann namens Bengt Claasen mit seinem Auto aufbricht und sich dortzubleiben vornimmt, wo das Halsband, das von seinem Hund geblieben ist, trotz möglichst langsamer und vorsichtiger Fahrt zum dritten Mal vom Armaturbrett rutscht.
Es wird das Örtchen Zandschow im Norden, in dessen Zentrum ein
Feuerlöschteich liegt, um den herum die wenigen Bewohner in einem festen Wochenrhythmus leben – an dem sich aber auch Szenen aus dem kolumbianischen Cartagena oder von Sansibar spiegeln. Was durch dieses Geflecht aber immer wieder durchschimmert, ist gerade ein Dilemma aus Nähe und Ferne: Denn der Erzähler war eben nicht da, als seine Eltern starben, er rechnet in der Erinnerung gerne mit dem Vater ab – und die Schwester, die sich um jene bis zuletzt gekümmert hat, wirft ihm vor, aus der Verantwortung geflohen zu sein.
Doch das sind alles mühsame Dechiffrierungen aus einem steten Sprachstrom, in dem mitunter drei Kapitel exakt gleich ansetzen, um dann mit leichten Verschiebungen weiterzugehen und zu Absätzen zu führen, die auch schon andere Kapiteln prägten. Dazwischen eingestreut mantra-artige Phrasen, die je nach Stelle anders wirken, etwa: „Aber in umgekehrter Reihenfolge.“Dazwischen immer wieder: „Das Zerreißen von“oder „Das Verlassen von“Briefe aus dem 20., dem 21. oder „einem anderen Jahrhundert“, die von den Eltern, aus Zandschow oder der Welt erzählen. „Anarchistisch und poetisch“wird das auf dem Buchrücken genannt. Und das ist es durchaus. Aber überzeugend ist es nur in wenigen Momenten der Verschiebung. Thomas Kunst wäre als Gewinner des Deutschen Buchpreises eine Sensation.