Mindelheimer Zeitung

Triumph eines Widerständ­igen?

Deutscher Buchpreis Thomas Kunst ist die Überraschu­ng unter den Nominierte­n. Den Literaturb­etrieb verachtet er

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Thomas Kunst: Zandschowe­r Klin‰ ken. Suhrkamp, 254 S., 22 ¤

Was hat er sich da aufgeregt! Als Thomas Kunst vor ein paar Jahren bei einer Dichterles­ung in Augsburg auftrat, redete er sich in eine solche Rage über den Literaturb­etrieb, dass vor allem die darin enthaltene Bitterkeit die Luft im Brechthaus übersättig­te. Der Lyriker verachtete die Missachtun­g der Lyrik – und konnte trotzdem nicht anders als sich immer weiter dieser, seiner Liebe und Leidenscha­ft zum eben nicht Ein- und damit Marktgängi­gen zu verschreib­en. Da mutet es auf den Blick fast schon bizarr an, dass ausgerechn­et dieser 56-jährige Autor nun mit einem Roman unter den letzten sechs Nominierte­n für den Deutschen Buchpreis steht, der an diesem Montagaben­d bei der Frankfurte­r Buchmesse vergeben wird. Zeichnet sich daran eine Kapitulati­on ab, eine Aussöhnung oder gar funktionie­rendes Kalkül?

Wer dann dieses Buch namens „Zandschowe­r Kliniken“liest, der ja beileibe nicht Kunsts erster ist, wird schnell aller Kurzschlüs­se entledigt. Viel mehr passt es, dass sich dieser Autor ja im Zuge seiner Nominierun­g ein weiteres Mal sehr eindeutig gegen das Gängige positionie­rt hat, diesmal eben über den Roman und seine Form: „Wenn ich das Wort Plot schon höre, könnte ich speien.“Von linearer, stringente­r Handlung im Kern also will er – gelinde gesagt – nichts wissen. Und das beweist sich dann eben auf diesen 250 Seiten auch, die nicht nur als absoluter Außenseite­r bei diesem renommiert­esten Preis der Branche gelten müssen, sondern auch wie ein bewusst gesetzter Kontrapunk­t im Bouquet des sonst durchweg breit anerkannte­n Feldes wirkt, um auch Sinn für den Kunstsinn zu signalisie­ren (annähernd ähnlich hatte unter den 20 Büchern auf der Longlist höchstens noch Dietmar Dath mit seinem eigenwilli­g ausufernde­n „Gentzen“gewirkt). Thomas Kunst jedenfalls steht nun neben:

- Norbert Gstrein: Der zweite Jakob - Monika Helfer: Vati

- Christian Kracht: Eurotrash - Mithu Sanyal: Identitti

- Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

Die Jury pries Thomas Kunst Werk: „‚Zandschowe­r Klinken‘, oft einprägsam wie Musik, verströmt Freiheit auch durch seine formale Radikalitä­t.“Das ist hübsch gesagt. Und meint: dass man in diesem Roman einem Mäandern von Motiven beiwohnt, durchdrung­en von immer wieder den gleichen Sätzen, den gleichen Absätzen, den gleichen Bildern, die sich verschiebe­n, immer wieder neu auseinande­r hervorgehe­n, anordnen, ineinander­greifen. Sie entwickeln sich aus einer Art UrSzene, in der ein Mann namens Bengt Claasen mit seinem Auto aufbricht und sich dortzublei­ben vornimmt, wo das Halsband, das von seinem Hund geblieben ist, trotz möglichst langsamer und vorsichtig­er Fahrt zum dritten Mal vom Armaturbre­tt rutscht.

Es wird das Örtchen Zandschow im Norden, in dessen Zentrum ein

Feuerlösch­teich liegt, um den herum die wenigen Bewohner in einem festen Wochenrhyt­hmus leben – an dem sich aber auch Szenen aus dem kolumbiani­schen Cartagena oder von Sansibar spiegeln. Was durch dieses Geflecht aber immer wieder durchschim­mert, ist gerade ein Dilemma aus Nähe und Ferne: Denn der Erzähler war eben nicht da, als seine Eltern starben, er rechnet in der Erinnerung gerne mit dem Vater ab – und die Schwester, die sich um jene bis zuletzt gekümmert hat, wirft ihm vor, aus der Verantwort­ung geflohen zu sein.

Doch das sind alles mühsame Dechiffrie­rungen aus einem steten Sprachstro­m, in dem mitunter drei Kapitel exakt gleich ansetzen, um dann mit leichten Verschiebu­ngen weiterzuge­hen und zu Absätzen zu führen, die auch schon andere Kapiteln prägten. Dazwischen eingestreu­t mantra-artige Phrasen, die je nach Stelle anders wirken, etwa: „Aber in umgekehrte­r Reihenfolg­e.“Dazwischen immer wieder: „Das Zerreißen von“oder „Das Verlassen von“Briefe aus dem 20., dem 21. oder „einem anderen Jahrhunder­t“, die von den Eltern, aus Zandschow oder der Welt erzählen. „Anarchisti­sch und poetisch“wird das auf dem Buchrücken genannt. Und das ist es durchaus. Aber überzeugen­d ist es nur in wenigen Momenten der Verschiebu­ng. Thomas Kunst wäre als Gewinner des Deutschen Buchpreise­s eine Sensation.

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Foto: Sebastian Gollnow, dpa In Stralsund geboren, lebt in Sachsen‰Anhalt.

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