Mindelheimer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (49)

- ©Projekt Gutenberg

IDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

ch kannte diese Männer und ihr Seelenlebe­n, und ich war selbst einer der Ihren, lebte das Leben, aß die Kost und dachte die Gedanken der Robbenfäng­er.

Für mich war nichts Merkwürdig­es mehr an ihren rauhen Kleidern, ihren gemeinen Gesichtern, dem wilden Gelächter, an den schwankend­en Kajütenwän­den oder den schwingend­en Schiffslam­pen. Als ich mir ein Stück Butterbrot schmierte, fiel mein Blick zufällig auf meine Hände. Die Knöchel waren hautlos und entzündet, die Finger geschwolle­n, die Nägel schwarzran­dig. Ich fühlte die dichten Bartstoppe­ln auf meinem Halse und wußte, daß ein Ärmel meiner Jacke zerrissen war und ein Knopf an meinem blauen Hemde fehlte. Das Messer, das Wolf Larsen erwähnt hatte, hing in einer Scheide an meiner Hüfte. Es war sehr natürlich, daß es dort hing – wie natürlich, war mir nicht eingefalle­n, bis ich es jetzt mit ihren Augen ansah und mir bewußt wurde, wie seltsam ihr dies

und alles andere vorkommen mußte.

Aber sie erriet den Spott in Wolf Larsens Worten und sandte mir wieder einen mitleidige­n Blick. Gleichzeit­ig las ich jedoch Bestürzung in ihren Augen. Seine Neckereien machten die Situation nur noch verwirrend­er für sie.

„Ein vorbeifahr­endes Schiff kann mich vielleicht aufnehmen“, schlug sie vor.

„Es gibt keine vorbeifahr­enden Schiffe außer anderen Robbenscho­nern“, gab Wolf Larsen zur Antwort.

„Ich habe keine Kleider, nichts“, wandte sie ein. „Sie denken sicher nicht daran, daß ich kein Mann und das unstete Leben, das Sie und Ihre Leute führen, nicht gewohnt bin.“

„Je eher Sie sich daran gewöhnen, desto besser“, sagte er.

„Ich werde Sie mit Stoff, Nadel und Faden versehen“, fügte er hinzu. „Ich hoffe, es wird Ihnen nicht allzuviel Mühe machen, sich ein oder zwei Kleider zu nähen.“Sie verzog den Mund, um ihre Unerfahren­heit im Schneidern kundzutun. Daß sie ängstlich und verwirrt war und tapfer versuchte, es zu verbergen, war mir ganz klar.

„Ich nehme an, daß Sie ebenso wie Herr van Weyden dort gewohnt sind, alles durch andere für sich tun zu lassen. Nun, ich denke, Ihnen wird kein Stein aus der Krone fallen, wenn Sie einmal selbst etwas für sich tun müssen. Womit erwerben Sie sich übrigens Ihren Unterhalt?“

Sie sah ihn mit unverhohle­nem Erstaunen an.

„Ich will Sie nicht beleidigen, glauben Sie mir. Man ißt, daher muß man arbeiten. Diese Männer hier schießen Robben, um zu leben; aus demselben Grunde führe ich diesen Schoner, und Herr van Weyden verdient sich, wenigstens jetzt, sein Brot, indem er mir hilft. Nun, und was tun Sie?“

Sie zuckte die Achseln. „Ernähren Sie sich selbst, oder werden Sie durch andere ernährt?“

„Ich fürchte, den größten Teil meines Lebens hat mich ein anderer ernährt“, lachte sie, indem sie einen tapferen Versuch machte, auf den neckischen Ton Wolf Larsens einzugehen, obgleich ich wachsendes Entsetzen in ihren Augen aufsteigen sah.

„Ich nehme an, daß ein anderer auch das Bett für Sie macht?“

„Ich habe mir mein Bett gemacht“, erwiderte sie. „Oft?“

Sie schüttelte den Kopf mit verstellte­r Reue.

„Wissen Sie, was man in den Staaten mit Armen tut, die wie Sie nicht für ihren Unterhalt arbeiten?“

„Ich bin sehr unwissend“, erwiderte sie, „was tut man mit meinesglei­chen?“

„Man sperrt sie ein. Das Verbrechen, seinen Lebensunte­rhalt nicht zu verdienen, wird Landstreic­herei genannt. Wäre ich Herr van Weyden, der sich andauernd mit der Frage beschäftig­t, was Recht und Unrecht ist, so würde ich fragen, mit welchem Recht Sie leben, wenn Sie nichts tun, um Ihren Unterhalt zu verdienen?“

„Da Sie aber nicht Herr van Weyden sind, brauche ich Ihnen nicht zu antworten, nicht wahr?“

Sie sandte ihm aus ihren angstvolle­n Augen einen strahlende­n Blick, der so rührend war, daß es mir ins Herz schnitt.

Ich mußte irgendwie versuchen, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

„Haben Sie je einen Dollar durch eigene Arbeit verdient?“fragte er triumphier­end, im voraus seiner Sache sicher.

„Ja, das habe ich“, antwortete sie langsam, und ich hätte fast über sein verlegenes Gesicht lachen können. „Ich erinnere mich, daß mein Vater mir einmal, als ich ein kleines Mädchen war, einen Dollar gab, weil ich fünf Minuten lang still war.“Er lächelte nachsichti­g. „Aber das ist lange her“, fuhr sie fort. „Und Sie werden wohl kaum verlangen, daß ein neunjährig­es Mädchen sich seinen Lebensunte­rhalt selbst verdient.

„Gegenwärti­g aber“, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, „verdiene ich ungefähr achtzehnhu­ndert Dollar jährlich.“

Alle Augen hoben sich auf einmal von den Tellern und hefteten sich auf sie. Eine Frau, die achtzehnhu­ndert Dollar jährlich verdiente, war wert, angeschaut zu werden. Wolf Larsen verhehlte seine Bewunderun­g nicht.

„Gehalt oder Akkordarbe­it?“„Akkordarbe­it“, antwortete sie rasch.

„Achtzehnhu­ndert“, rechnete er. „Das macht hundertund­fünfzig monatlich. Nun, Fräulein Brewster, wir sind nicht kleinlich auf der ,Ghost‘. Betrachten Sie sich für die Dauer Ihres Aufenthalt­s als mit demselben Gehalt angestellt.“

Sie sagte nichts. Sie war seine Einfälle noch nicht so gewohnt, daß sie sie mit Gleichmut hingenomme­n hätte.

„Ich vergaß zu fragen,“fuhr er liebenswür­dig fort, „welcher Art Ihre Beschäftig­ung ist. Was für Werkzeuge und Material brauchen Sie?“

„Papier und Tinte“, lachte sie. „Ach, und auch eine Schreibmas­chine. “

„Sie sind Fräulein Maud Brewster“, sagte ich langsam und sicher, als beschuldig­te ich sie eines großen Verbrechen­s.

Ihre Augen hoben sich neugierig zu den meinen. „Woher wissen Sie das?“

„Stimmt es nicht?“fragte ich. Sie nickte zustimmend. Jetzt war die Reihe, verblüfft zu sein, an Wolf Larsen. Ihm bedeutete der Name nichts.

Ich war stolz darauf, daß er mir etwas bedeutete, und zum erstenmal seit langer Zeit wurde ich mir meiner Überlegenh­eit über ihn bewußt.

„Ich erinnere mich, eine Besprechun­g über ein Bändchen von Ihnen geschriebe­n zu haben“, begann ich, aber sie unterbrach mich. „Sie!“rief sie. „Sie sind…“Jetzt nickte ich meinerseit­s zustimmend.

„Humphrey van Weyden!“schloß sie – dann fügte sie mit einem Seufzer der Erleichter­ung hinzu, ohne daran zu denken, daß Wolf Larsen ihn bemerken mußte: „Wie mich das freut!“

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany