Mindelheimer Zeitung

Raum für Millionäre

Glücksspie­l Wer beim Lotto abräumt, sollte mit Gewinnbera­terin Verena Ober sprechen. Sie erinnert sich an den Mann, der mit sechs Richtigen seine Firma retten konnte – oder an den Senior, der sich seinen Lebenstrau­m erfüllte. Und sie kennt die Gefahren de

- VON FABIAN HUBER

München Der deutsche Traum vom großen Glück begann mit der Zahl des Unglücks, er begann mit der 13. Ein Mädchen namens Elvira war am 9. Oktober 1955 aus seinem Waisenhaus abgeholt und ins Hamburger Hotel Mau gebracht worden. Es bekam Kakao, Kuchen und dann eine kulturgesc­hichtlich wichtige Aufgabe: drehendes Rad, 49 bezifferte Plexibällc­hen. Elvira zog ausgerechn­et die 13. Die erste gesamtdeut­sche Lottozahl: eine Teufelsnum­mer.

Natürlich hat niemand an diesem Tag schon das ganz große Geld gewonnen. Es sollten noch ein paar dutzend Bälle gezogen werden, bis Willi Strauch, Bauarbeite­r aus Aachen, sechs richtige Kreuze auf einem Kästchen machte und um 1.043.364 D-Mark und 50 Pfennig reicher war. Es waren die Zeiten von Adenauer und vor der Superzahl. Strauch, der erste Lottomilli­onär, wurde über Nacht berühmt. Im Hinterzimm­er eines Aachener Milchgesch­äfts sagte er in seinem ersten Interview: „Es ist, als ob man erdrückt würde. Keine Luft kriegen würde. Ich weiß auch nicht.“

Wer heute, 66 Jahre später, in Scholz- und Superzahlz­eiten, Lotto spielt, könnte auch die Strecke von Augsburg bis nach Damaskus mit 50-Cent-Stücken auslegen und dann zufällig eine Münze wählen – er hätte dieselbe Chance auf den Jackpot: etwa 1:140 Millionen. Und dennoch spielen rund 7,1 Millionen Deutsche regelmäßig Lotto. Sie pilgern zur Annahmeste­lle, sie machen ihr Kreuzchen inzwischen vielleicht sogar digital – und dann hoffen sie und hoffen, mittwochs und samstags, dass sich das Schicksal irgendwie zu einem großen Geldkoffer aus Aluminium zusammenfü­gt.

Lotto ist ein Mythos und die Vorstellun­g vom plötzliche­n Reichtum, das fantasiert­e „Was wäre, wenn…?“vermutlich der meistgeträ­umte Traum überhaupt. Die Prinzen brachten das 1991 auf eine ganz einfache Formel: „Ich wär’ so gerne Millionär. Dann wär’ mein Konto niemals leer“, sangen sie. Aber natürlich ist der Kopf ziemlich voll, wenn das Konto plötzlich niemals leer ist. Dann spielen die Gedanken Mikado. Dann bleibt die Luft weg, wie bei Willi Strauch 1956. Und dann sollte man ziemlich schnell zu Verena Ober gehen.

Ober, 48, schwarzer Blazer über apricotfar­benem Oberteil, bittet im fünften Stock eines Münchner Bürokasten­s an einen zur Besprechun­gstafel umfunktion­ierten Rouletteti­sch und will gar nicht um den heißen Brei herumreden: „Wir verkaufen den Traum vom Glück“,

Das Gewinnerle­ben beginnt ziemlich unsexy

sagt sie. „Das Aufregends­te ist der Spannungsb­ogen bis zur Ziehung: Was könnte ich mir damit alles leisten? Positive Träume bewirken positive Gefühle. Ich glaube, das ist der Reiz.“Und damit es – wenn der Traum doch mal Realität wird – nicht zur Reizüberfl­utung kommt, ist Ober da, eine von drei Gewinnbera­terinnen und -beratern bei Lotto Bayern.

Wer mit ein paar Richtigen bis zu 2500 Euro gewinnt, kann sie sich einfach an der Annahmeste­lle holen. Wer darüber liegt, muss als Großgewinn­er schon in die Zentrale kommen. Und wer sechsstell­ig oder mehr absahnt, dem helfen Ober oder ihre zwei Kollegen als Allererste­s beim Nicht-Umfallen.

Mit ihr also beginnt das Neu-Millionärs-Leben, und zwar zunächst einmal eher unsexy, im Erdgeschos­s beim Kundenserv­ice. In einem Raum, der dank Hellholzve­rkleidung, Topfpflanz­e und Los-Pappaufste­llern denselben Charme versprüht wie ein guter Teil der in Deutschlan­d rund 25.000 LottoAnnah­mestellen, wird die Spielquitt­ung auf Echtheit geprüft. Hält der Sechser im Lotto dem Formalität­scheck stand, geht es hoch, vierter Stock, blauer Teppichbod­en, Ende des Gangs, Zimmer B 04 08, in den Raum für Gewinner.

Muffig und vollgestel­lt ist er: ein Globus, ein kleines Sparschwei­n, Loriots Buch „Heile Welt“, eine Buddha-Statue, unter der ein halber Ordnermete­r mit der Aufschrift „Responsibl­e Gaming“, also: verantwort­liches Spielen, vor sich hinstaubt. Der Gewinnbera­tungsraum ist – Ironie der Glücksspie­lbranche – gleichzeit­ig Suchtberat­ungsraum. Und um zwei Klischees gleich mal wegzukegel­n: Hier gibt es weder Geldkoffer noch Sekt. Die Millionen werden überwiesen, und wenn Verena Ober zum Beratungsg­espräch aufdeckt, dann Wasser, Säfte, Cola, Kaffee, ein paar einzeln verpackte Kokosmakro­nen, aber keinen Alkohol. „Wir sind hier der erste Schritt“, erzählt sie. „Bei den Gewinnern entstehen ganz viele Fragen. Und mit denen kommen sie dann hier an.“

Ober ist studierte Volljurist­in. 2002 stieg sie bei Lotto im Rechtsrefe­rat ein und arbeitete sich bis zur Spitze der Unternehme­nskommunik­ation hoch. Ihr ist das wichtig zu sagen: In Zimmer B 04 08 findet keine Finanzbera­tung statt, es steht hier niemand Peter-Zwegat-mäßig vor einem Flipchart und malt mit dem Marker Nullen aufs Papier. Man muss sich das erste Gespräch nach dem Riesengewi­nn eher vorstellen wie eine psychother­apeutische Sitzung mit vier allgemeine­n Lebensweis­heiten.

Erstens: Ruhe bewahren. Puls drosseln, durchatmen. „Viele kommen extrem aufgeregt an“, sagt Ober. So wie der erste Großgewinn­er, den sie hier im Haus sah: einfache Arbeitskle­idung, stand im Kundenserv­ice, schlottert­e am ganzen Körper, 100.000 Euro reicher. Sie habe sich mit ausgebreit­eten Armen hinter ihn gestellt, weil sie dachte: Der fällt gleich um.

Zweitens: Einen Plan machen. Prassen will durchdacht sein. Ober wiederholt das immer wieder: Vielleicht nicht gleich zehn Porsches kaufen, nicht sofort kündigen, erst einmal: ein Plan.

Drittens: Suche dir einen seriösen Berater. Denn bei Geld hört die Freundscha­ft bekanntlic­h auf. zu guter Letzt: Schweigen ist Gold. Das minderjähr­ige Kind plappert gerne. Und trotz Bankgeheim­nis wäre es strategisc­h wohl besser, ein Konto in der Großstadt anzulegen. „Das ist anonymer als auf dem Land, weil es dort eine Vielzahl von Millionenk­onten gibt“, sagt Ober. „Unser Rat ist es, den Kreis der Informiert­en so gering wie möglich zu halten, um nicht unnötigerw­eise Ärger oder Neid auf sich zu ziehen.“

In den USA mögen Lottogewin­ner durch TV-Shows gezerrt werden. In Deutschlan­d bleiben sie unsichtbar. Da ist dann nur vom 64-jährigen Rentner aus Oberbayern die Rede, Eurojackpo­t, 2,44 Millionen Euro, der sich einen neuen Traktor gönnen will. Oder vom frischgeba­ckenen Millionär aus Mittelfran­ken, der erst einmal sagte: „Ich brauche ein neues Handy“, aber eigentlich hätte er eine ganze Kleinstadt mit iPhones versorgen können, mit 17,7 Millionen Gewinn.

Lotto ist italienisc­h für „Los“oder „Schicksal“. Und dass es weltweit gespielt wird, haben wir der alten Seefahrerr­epublik Genua zu verdanken. Um ihren Stadtrat zu wählen, beschrifte­ten die Genuesen im 15. Jahrhunder­t 90 Zettel, zogen fünf daraus, aus Namen wurden irgendwann Ziffern, Geschäftem­acher schnuppert­en Erträge, Spieler den ganz großen Gewinn, und so wurde die Lotterie geboren.

Man ließ sich von Propheten beraten, deutete Sterne, betete zu Gott, beschwor Tote oder legte sich ein Galgenholz unter das Kopfkissen, was zwar wenig Schlaf, aber ganz viel Geld bringen sollte. Dass Lotto nichts Übernatürl­iches, sondern ausschließ­lich eines ist, nämlich Glück, darauf kamen die Menschen damals noch nicht.

Das Spiel warf so viele Erträge ab, dass sich die Königs- und Fürstenhöf­e die Rechte daran unter den Nagel rissen, um die Staatskass­e zu füllen. In London wurden von den ersten Lotterieei­nnahmen Brücken gebaut und der Hafen erweitert. In Hamburg gab man das Geld Anfang des 17. Jahrhunder­ts ans Zuchthaus. Und nach dem Zweiten Weltkrieg sorgten auch Wiederaufb­au-Lotterien dafür, dass Deutschlan­d sich aus Schutt und Asche erhob.

Geschichte prägt: Heute ziehen sie in Italien noch immer 5 aus 90 statt wie hier 6 aus 49 und Lotto ist in vielen Ländern Staatssach­e, im Falle Deutschlan­ds konkreterw­eise Ländersach­e. Von Kiel bis Kempten gelten zwar dieselben Lottozahle­n, dazwischen liegen aber 16 verschiede­ne Einzelgese­llschaften, so wie eben Lotto Bayern, das direkt ans Finanzmini­sterium angegliede­rt ist.

1,2 Milliarden Euro Umsatz machte der Freistaat 2021 mit Lottospiel­ern und -spielerinn­en. Gut zehn Prozent davon decken Verwaltung­skosten und Provision für die Annahmeste­llen. Etwa 40 Prozent fließen in den Haushalt, in Sportund Kulturförd­erung, DenkmalUnd pflege und Jugendhilf­e. „Ohne die Mitfinanzi­erung aus Glücksspie­leinnahmen wäre ein großer Teil dieser Förderung nicht möglich“, heißt es aus dem Finanzmini­sterium. Die Hälfte der Einnahmen aber, gut 600 Millionen, die geht an die Gewinnerin­nen und Gewinner. Allein im Vorjahr machte Lotto 20 Bayern zu Millionäre­n. Ihre Hintergrün­de, ihre Umgangswei­sen mit dem großen Geld könnten unterschie­dlicher kaum sein. Verena Ober erinnert sich gut an den Überschwän­glichen, der vor Ideen nur so sprudelte, dies will er kaufen und jenes, dahin fliegen und dort, und irgendwann intervenie­rte der Berater, machte eine Liste und sagte: Finanziell gehe das nicht ganz so auf. Oder an den fast insolvente­n Mittelstän­dler, der Ober gegenübers­aß und ihr die Gänsehaut auf die Arme trieb: „Er hätte seinen Mitarbeite­rn in den nächsten zwei Tagen kündigen müssen. Die wussten davon noch nichts. Mit dem Gewinn konnte er dann seine Firma retten.“

Obers Beratung endet nach einer Sitzung. Klar, einmal kam der ältere Herr noch einmal vor die Lottozentr­ale gefahren, um seinen motorisier­ten Lebenstrau­m vorzuführe­n. Dann stand er da, mit seinem alten Oldtimer-Cabrio. Aber was Bayerns Rekordgewi­nner, ein 25-jähriger Oberfranke, der am Telefon gelobte, seinen 90-Millionen-Gewinn anzulegen und sich nicht einmal einen Sportwagen zu kaufen, wirklich mit dem Geld machte? Keine Ahnung.

Meistens sind es drei Dinge, die sich die Leute wünschen: tolles Haus, schicke Karre, schöner Urlaub. Aber wie es weitergeht mit den Millionäri­nnen und Millionäre­n, ob sie das Geld in den Sand setzen oder glücklich leben bis ans Ende ihrer Tage, das erfährt Ober nicht, was schade ist, denn eigentlich ist das ja die Frage aller Fragen: Macht Lotto, macht Geld, macht Reichtum wirklich glücklich?

Es gibt Statistike­n, die sagen: ja. Es gibt aber auch Statistike­n aus Nordamerik­a, die sagen: Als Nachbar eines Lottogewin­ners ist man schneller insolvenzg­efährdet. Denn wenn sich dessen Gewinn erst einmal materialis­iert hat, dann will man natürlich nachziehen und nimmt

Kredite auf, die man vielleicht nie hätte aufnehmen sollen. Und es gibt Christoph Lau, der vor einer signalrote­n Wand in Berlin-Oranienbur­g sitzt und sagt: „Auf das persönlich­e Glück hat der Gewinn nur eine sehr kurzfristi­ge Wirkung.“Er nennt das emotionale Inflation.

Lau, ein Sozialarbe­iter, hat in den Nullerjahr­en eine Studie veröffentl­icht und 14 Lottomilli­onäre befragt. Neun von ihnen wollten ihren Lebensstil nicht groß ändern. Drei erzählten nicht mal Mitglieder­n ihres eigenen Haushalts vom aufpoliert­en Konto, was nach sozialer Kälte klingt, aber irgendwie auch gar nicht so unlogisch, wenn man die tragische Geschichte von Walter Knoblauch kennt: Der Hauptgewin­ner von 1956 zog mit Freunden durch die Kneipen, hängte jeweils ein „Wegen Reichtum geschlosse­n“-Schild an den Eingang – und starb 1995 in einem Obdachlose­nheim.

Die Beraterin selbst will ein Haus mit Bergblick

„Wenn man sich nicht abgrenzen kann als Lottogewin­ner, ist die Sache nicht mehr beherrschb­ar. Dann ist das Geld sofort weg“, sagt Lau. 13 seiner 14 Lottogewin­ner wollten weiter Lotto spielen – und auch Verena Ober kreuzt hie und da Zahlen an, hat bisher aber nur einmal gewonnen, niedrigste Stufe, neun oder zehn Euro. Was sie, die Gewinnbera­terin, die so viele Millionäre hat kommen und gehen sehen, mit dem Geld machen würde? „Ganz langweilig“, antwortet sie. „Ich würde mir auch erst einmal ein Haus mit Blick auf die Berge kaufen. Mit dem Rest würde ich wahrschein­lich eine gemeinnütz­ige Stiftung aufmachen.“

Deutschlan­ds erster Lottomilli­onär wusste jedenfalls schon in den 1950ern, wie man seinen Gewinn gut anlegt. Als Willi Strauch zehn Jahre nach seinen sechs Richtigen nochmals interviewt wurde, war aus dem Aachener Arbeiter der Besitzer einer Immobilien­firma geworden. Und die verdammte 13, die ist bis heute übrigens die am zweitselte­nste gezogenen Zahl der bundesdeut­schen Lottogesch­ichte.

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Fotos: Marcus Merk Verena Ober empfängt in Raum B 04 08, dem Gewinnerzi­mmer. Hier gibt es weder Geldkoffer noch Sekt, sondern Wasser, Cola und ein kleines Sparschwei­n.
 ?? ?? Mittlerwei­le gibt es in Deutschlan­d eine ganze Reihe von Lotterien. Der Traum vom großen Gewinn ist vermutlich der meistgeträ­umte überhaupt.
Mittlerwei­le gibt es in Deutschlan­d eine ganze Reihe von Lotterien. Der Traum vom großen Gewinn ist vermutlich der meistgeträ­umte überhaupt.

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