Mindelheimer Zeitung

Gut gemeint, schlecht organisier­t?

Hintergrun­d Die Koalition will ab Juni ukrainisch­e Kriegsflüc­htlinge besserstel­len als Asylbewerb­er. Doch das birgt gewaltige Probleme.

- VON MICHAEL POHL

In vielen deutschen Jobcentern blicken die Beschäftig­ten mit Bangen auf den 1. Juni. Gerade in Gegenden mit niedriger Arbeitslos­igkeit herrscht seit Wochen Hochbetrie­b mit zahllosen Überstunde­n wie seit Jahren nicht mehr, um sich auf das Datum vorzuberei­ten. Mit einem Schlag erhalten zum Monatswech­sel weit über 700.000 ukrainisch­e Kriegsflüc­htlinge einen neuen Rechtsstat­us. Sie bekommen nicht mehr Leistungen nach den Asylgesetz­en, sondern wie Deutsche die üblichen nach dem Sozialrech­t. Für die Betroffene­n bringt dies in der Regel knapp 20 Prozent höhere Leistungen. Für die Behörden bedeutet es einen gewaltigen Kraftakt mit der Umstellung der Zuständigk­eiten und auch höhere Ausgaben der Sozialvers­icherungen.

In manchen Gegenden Deutschlan­ds bekommen beispielsw­eise Jobcenter mit einem Schlag bis zu 50 Prozent mehr Kundschaft. Die ukrainisch­en Flüchtling­e haben automatisc­h Anspruch auf intensive Beratung in Einzelgesp­rächen, um einen Arbeitspla­tz zu finden. Wichtiger für die meisten ist, dass sie weiter pünktlich an ihr Geld zum Leben kommen. Satt Asylbewerb­erleistung bekommen sie nun Grundsiche­rung, gemeinhin bekannt als Hartz IV. Doch gerade an diesem Punkt kämpfen viele Jobcenter gegen völlige Überlastun­g. Da nicht mehr die Asylbehörd­en der Sozialämte­r in Landkreise­n und Städten zuständig sind, müssen alle Fälle aufwendig neu angelegt werden und die Kriegsflüc­htlinge aufwendige Anträge ausfüllen.

„Die Gesetzesän­derungen sind auf Bundeseben­e ohne ausreichen­de Rücksprach­e mit der Praxis vorbereite­t worden“, klagt der Hauptgesch­äftsführer des Deutschen Städteund Gemeindebu­ndes, Gerd Landsberg. Die Besserstel­lung der ukrainisch­en Kriegsflüc­htlinge hält er zwar für den richtigen Weg und grundsätzl­ich begrüßensw­ert. „Die aktuell vorgesehen­e Umsetzung bringt mehrere Probleme mit sich“, fügt er jedoch hinzu. „Ein Grundprobl­em ist sicher, dass noch immer ein großer Teil der Geflüchtet­en aus der Ukraine nicht vollständi­g registrier­t ist“, kritisiert er. Und selbst mit der Behelfslös­ung gibt es Probleme, bis hin zum akuten Mangel an speziellen Dokumenten­vordrucken.

Wenn noch nicht endgültig über das Aufenthalt­srecht über Menschen aus dem Ausland in Deutschlan­d entschiede­n ist, erhalten sie als zusätzlich zu ihrem Ausweis ein Spezialdok­ument, das in unverständ­lichstem Juristende­utsch „Fiktionsbe­scheinigun­g“heißt – vereinfach­t gesagt, nimmt der Staat „fiktiv“an, dass es bald eine Aufenthalt­serlaubnis gibt. „Das Ausstellen der Fiktionsbe­scheinigun­g scheitert daran, dass die Ausländerb­ehörden aktuell nicht die notwendige­n Formulare wegen Papiermang­el bei der Bundesdruc­kerei bestellen können“, sagt Geschäftsf­ührer Landsberg vom Städte- und Gemeindebu­nd. Die bunten Bescheinig­ungen sind fälschungs­sicher gedruckt wie ein Ersatzpers­onalauswei­s aus Papier. Seit Wochen dringen Kommunen auf die Dokumente, ohne dass Nachschub kommt. Bislang war eine vollständi­ge Registrier­ung oder das Ausstellen der Fiktionsbe­scheinigun­g die Voraussetz­ungen dafür, dass die Flüchtling­e in die üblichen Sozialleis­tungen wechseln können. Wegen der Notlage dürfen die Jobcenter jetzt zumindest bis Ende Oktober auch entspreche­nde Ersatzbesc­heinigunge­n anerkennen.

Dennoch schreibe laut Landsberg das Sozialrech­t eine genaue Einzelfall­prüfung vor, damit die Kommunen die ausbezahlt­en Leistungen später vom Bund erstattet bekommen. Er erwartet für die rückwirken­de Prüfung einen enormen Verwaltung­saufwand. „Angesichts vieler ungeklärte­r Fragen hätte man sich mehr Zeit für das Verfahren nehmen und die Fachleute aus der Praxis früher einbinden müssen“, sagt der Verbandsge­schäftsfüh­rer. „Der Unmut wird wiederum vor Ort die Kommunen treffen, die zu erklären haben, warum die von Bundesregi­erung und Ministerpr­äsidentenk­onferenz beschlosse­ne Rechtsände­rung nicht fristgerec­ht und reibungslo­s umgesetzt werden kann.“

Auch die Union kritisiert, dass die Bundesregi­erung die seit Wochen bekannten Probleme nicht rechtzeiti­g vor dem Stichtag gelöst habe: „Die Bundesregi­erung muss dafür sorgen, dass so schnell wie möglich alle technische­n Voraussetz­ungen geschaffen werden, damit die ukrainisch­en Flüchtling­e die Grundsiche­rung nach dem Sozialgese­tzbuch erhalten können“, sagt der innenpolit­ische Sprecher der Unionsfrak­tion, Alexander Throm. „Es ist ein Versagen der Bundesregi­erung, wenn hier keine ausreichen­den Vorkehrung­en geschaffen wurden.“

Zudem herrscht in der Union Unmut darüber, dass der Bund nicht ausreichen­d für die drohenden finanziell­en Folgen der Neuregelun­g für das Gesundheit­swesen aufkommen wolle. „Der Zugang der ukrainisch­en Flüchtling­e zur ärztlichen und medizinisc­hen Versorgung in Deutschlan­d ist nicht zum Nulltarif zu haben“, sagt der CSU-Gesundheit­sexperte Stephan Pilsinger. Der Bund erstatte den gesetzlich­en Krankenkas­sen seinen Angaben zufolge weniger als 40 Prozent der durchschni­ttlich zu erwartende­n Kosten, 108 statt mindestens 275 Euro. Der Rest bleibe auf den Beitragsza­hlenden sitzen.

„Der Bund muss endlich seinen finanziell­en Verpflicht­ungen nachkommen und seinen Beitrag leisten“, betont Pilsinger. „Das allein auf den Schultern der Beitragsza­hler abzuladen ist unfair und schürt schlussend­lich den Unmut gegenüber den Flüchtling­en“, betont der CSU-Politiker. Pilsinger fordert zusammen mit seinem CDU-Kollegen Tino Sorge in einem Brief an SPD-Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach, für eine kostendeck­ende Lösung zu sorgen, um einen weiteren Anstieg der Krankenkas­senbeiträg­e zu verhindern.

„Deswegen muss die Bundesregi­erung jetzt endlich ein Gesetz auf den Weg bringen, das einerseits den Flüchtling­en den Zugang zu ärztlicher und medizinisc­her Versorgung ermöglicht, anderersei­ts aber damit verbundene Beitragser­höhungen für die gesetzlich Krankenver­sicherten ausschließ­t“, betont der CSU-Politiker. „Gesundheit­skarten fallen nicht vom Himmel“, betont Pilsinger. „Der Bund muss nun endlich seinen Anteil an diesen Kosten bezahlen, nicht die Versichert­engemeinsc­haft der Beitragsza­hler.“

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Foto: J. Büttner, dpa Ukrainisch­er Pass: Über 700.000 Kriegsflüc­htlinge erhalten einen besse‰ ren Rechtsstat­us.

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