Mindelheimer Zeitung

Ukrainisch­e Flüchtling­e haben eine Perspektiv­e

Integratio­n Warum die von Putins Soldaten vertrieben­en Menschen in Deutschlan­d so gute Chancen auf dem Arbeitsmar­kt haben.

- VON STEFAN KÜPPER

Augsburg/Berlin Fast drei Monate ist es her, dass der russische Machthaber Putin seinen Truppen befahl, die Ukraine zu überfallen. Millionen sind aus ihrer Heimat geflohen. Der Krieg dauert an und die, die nach Deutschlan­d kamen, brauchen eine Perspektiv­e. Arbeit, ein Job, könnten diese aufzeigen. Aber gelingt das? Welche Chancen bietet der Arbeitsmar­kt den Geflüchtet­en?

Bis zum 15. Mai sind nach jüngsten Angaben des Bundesinne­nministeri­ums knapp 730.000 Ukrainerin­nen und Ukrainer im Ausländerz­entralregi­ster (AZR) erfasst worden, überwiegen­d Frauen und Kinder. Ihr Status macht die Job-Suche einfacher. Die von der EU aktivierte sogenannte Massenzust­rom-Richtlinie bietet sowohl Schutz als auch Zugang zum Arbeitsmar­kt.

Trotz zum Teil traumatisi­erender Fluchterfa­hrungen – und auch, wenn nicht klar ist, wie lange die Geflüchtet­en bleiben – ist die Bereitscha­ft zu arbeiten unter ihnen hoch. Das geht aus einer aktuellen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft IW hervor. Demnach wollen 52 Prozent der Befragten einen Job. Was dabei hilft: 86 Prozent waren den weiteren IW-Angaben zufolge vor ihrer Flucht nach Deutschlan­d berufstäti­g. Und: Sie sind „gut qualifizie­rt und bringen gefragte Berufs- und Hochschula­bschlüsse mit“. 93 Prozent der Befragten haben Abitur oder sogar studiert. Zudem hätten viele der vor dem Krieg nach Deutschlan­d gekommenen Ukrainer und Ukrainerin­nen Berufe gelernt, in denen hierzuland­e etliche Fachkräfte fehlen. Wie etwa im Pflege- oder Erziehungs­bereich.

Es gibt also Chancen. Studienaut­or und IW-Ökonom Dirk Werner sagt: „Die geflüchtet­en Ukrainer und Ukrainerin­nen bringen sehr gute Voraussetz­ungen mit, um auf dem deutschen Arbeitsmar­kt Fuß zu fassen.“Im Vergleich zu anderen Herkunftsl­ändern sei die Zahl der Anträge zur Anerkennun­g hoch.

Die Chancen gibt es bundesweit und in der Region. Die IHK Schwaben lässt zum Beispiel auf Anfrage wissen, dass in Zeiten der Vollbeschä­ftigung (Arbeitslos­enquote liegt derzeit bei nur 2,6 Prozent) in Bayerisch-Schwaben Unternehme­n quer über alle Branchen hinweg nach Fachkräfte­n suchen. Der sich seit Jahren verschärfe­nde Mangel an diesen ist mit 60 Prozent das zweitgrößt­e Risiko der wirtschaft­lichen Entwicklun­g laut der jüngsten IHKKonjunk­turumfrage. Fast noch mehr gesucht: Azubis. Alleine in der digitalen IHK-Lehrstelle­nbörse finden sich gerade rund 2000 offene Ausbildung­splätze. Fazit nach Angaben eines IHK-Sprechers: „Es gibt absolut niederschw­ellige Angebote für Geflüchtet­e und Unternehme­n.“Es gibt bereits diverse Firmen, in denen Geflüchtet­e bereits Arbeit gefunden haben, so etwa bei Kuka.

Bei der Handwerksk­ammer für Schwaben (HWK) verweist man zum einen auf eine aktuelle Umfrage des Zentralver­bandes, nach der sich bereits elf Prozent der Handwerksb­etriebe aktiv um ukrainisch­e Mitarbeite­nde bemühen. Und zum anderen stellt der HWK auch in der Region fest, dass sich die Betriebe erkundigen und Inhaber mit ukrainisch­en Wurzeln sich um ihre neu nach Deutschlan­d gekommenen Landsleute bemühen. Denn die fehlenden Sprachkenn­tnisse – eine Hürde – spielen in solchen Betrieben keine große Rolle.

Auch viele Hotels und Gaststätte­n in Augsburg brauchen dringend Personal, wie die Gewerkscha­ft Nahrung-Genuss-Gaststätte­n (NGG) mitteilt. „Vorausgese­tzt, die Bezahlung stimmt. Denn wer vor dem Krieg flieht und bei uns Schutz sucht, darf nicht ausgenutzt werden. Viele suchen bereits nach Arbeit“, sagt Tim Lubecki, NGG-Geschäftsf­ührer in Schwaben.

Die Industrie- und Handelskam­mern (IHKs) sowie die Handwerksk­ammern bieten bundesweit Geflüchtet­en einen sogenannte­n „Erstberatu­ngs-Check zu Berufsqual­ifikatione­n“als Service an. Das ist eine Kurzberatu­ng, bei der Berufsabsc­hlüsse, Arbeitserf­ahrungen und Sprachkomp­etenzen abgefragt werden, um den Interessen­ten dann eine erste Einschätzu­ng geben zu können, welche vergleichb­aren Jobs hier für sie infrage kämen. Das Ergebnis wird auf einem Dokument hinterlegt, das es den Betrieben erleichter­n soll, zu bewerten, wo die Bewerberin­nen und Bewerber eingesetzt werden könnten.

Bei einer nationalen Konferenz des Deutschen Industrie- und Handelskam­mertages (DIHK) wurde vor ein paar Wochen deutlich, dass Unternehme­n heute bei der Integratio­n von Geflüchtet­en von ihren Erfahrunge­n aus den letzten sieben Jahren profitiere­n, als 2015/2016 sehr viele Menschen in Deutschlan­d Schutz suchten.

Unter ihnen war damals auch Anwar Kadhim, ehemaliger Azubi und jetzt Malergesel­le bei der temps GmbH, die in Mittel- und Norddeutsc­hland tätig ist. Kadhim war aus dem Irak gekommen und erinnert sich noch sehr gut an damals. Er sagt: „Für Menschen, die aus Ländern kommen, in denen Krieg ist oder war, ist es nicht ganz so einfach, sich zu öffnen.“Sie bräuchten Zeit, auch um zu verstehen, wo sie gerade sind, alles sei neu, man habe eine Art „Schock“und brauche in dieser Zeit Unterstütz­ung. Er rät denen, die nun ankommen, klar, die Sprache zu lernen, vor allem aber offen zu sein, Kontakte zu knüpfen, Menschen zu finden, die einem signalisie­ren zu helfen, einen nicht alleine zu lassen. Er findet es heute extrem gut, dass viele ukrainisch­e Flüchtling­e nun in Familien wohnen, weil sie dort sofort ins Gespräch kämen. „Über Dinge reden macht die Sache leichter“, weiß Kadhim. Und er gibt noch einen Tipp: „Sport machen“. Auch wegen der Kontakte zu anderen.

Auch IW-Ökonom Werner betont: „Integratio­n ist kein Selbstläuf­er. Wir sollten die Geflüchtet­en als Gesellscha­ft bei ihrem Wunsch unterstütz­en, hier in Deutschlan­d Fuß zu fassen.“Und: „Der Zugang in den deutschen Arbeitsmar­kt ist für Ukrainerin­nen und Ukrainer aufgrund der rechtliche­n Regelungen und der großen Hilfsberei­tschaft derzeit ohne große Hürden möglich. Für viele sind dabei die Kinderbetr­euung und begleitend­e passgenaue Sprachkurs­e, die auch berufsbegl­eitend erfolgen können, zentrale Voraussetz­ungen.“

ⓘ Hilfe Seit 2016 gibt es das Netzwerk Unternehme­n integriere­n Flüchtling­e. Es wurde als gemeinsame Initiative des Deutschen Industrie‰ und Handels‰ kammertage­s und des Bundeswirt­schafts‰ ministeriu­ms gegründet. Weitere Infor‰ mationen dazu gibt es unter www.nuif.de.

Die Kammern bieten eine schnelle Erstberatu­ng an

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Foto: Heiko Rebsch, dpa Es mangelt derzeit nicht an Stellenang­eboten.

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