„So ein Doppelleben kostet Kraft“
Arbeitswelt Viele Schwule und Lesben behalten ihre sexuelle Orientierung im Beruf für sich – und leiden oft darunter. Doch Unternehmen werben längst gezielt um Homosexuelle. Nicht immer ist klar, ob dahinter nicht nur Kalkül steckt.
Berlin „Darf ich mich im Vorstellungsgespräch outen?“Eine Frage, die Michael Lauk auf der Job- und Karrieremesse sticks & stones von einer Interessentin gestellt bekam. Lauk vertritt den 130.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zählenden Konzern Bertelsmann regelmäßig auf der Messe, auf der sich am 11. Juni in Berlin wieder mehr als 80 LGBT-freundliche Arbeitgeber präsentieren werden – die englische Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Seine Antwort: „Das bleibt dir überlassen. Uns geht es um dein Talent und dein Profil. Für uns ist die sexuelle Orientierung nicht von Belang, sie spielt bei der Stellenbesetzung keine Rolle.“
Seit 2017 besteht bei Bertelsmann das be.queer Mitarbeiter:innenNetzwerk, dem derzeit 430 Beschäftigte weltweit angehören und deren Vorsitzender Lauk ist. „Als wir mit dem Netzwerk gestartet sind, gab es im Unternehmen anonym negative Kommentare, die aber die absolute Ausnahme waren. Die Geschäftsführung hat deutlich gemacht, dass sie solche Äußerungen nicht akzeptiert und das Netzwerk unterstützt. Das ist sehr wichtig“, sagt Lauk. Das Netzwerk informiert über einen Newsletter, organisiert Aktionen, beteiligt sich am Christopher Street Day, bietet Hilfestellung an, zudem gibt es an einigen Konzernstandorten Stammtische.
Auf der Messe stellt Bertelsmann seine Leitlinien vor. Dazu gehören Sanktionen bei Diskriminierung von LGBT, keine geschlechtsspezifischen Kleidungsvorschriften, vertrauliche Unterstützung beim Coming-Out-Prozess, Maßnahmen zur Reduzierung von Vorurteilen gegenüber HIV-positiven Beschäftigten sowie geschlechtsneutrale Toiletten. Als Ansprechpartner dienen Antidiskriminierungsbeauftragte. „Seit 2019 habe ich bei Arvato nichts Konkretes hinsichtlich von Benachteiligungen mitbekommen. Es bleibt wichtig zu zeigen, dass Diskriminierungen nicht geduldet werden“, sagt Lauk, der im Hauptberuf Prozessmanager beim Bertelsmann-Tochterunternehmen Arvato Financial Solutions ist. Mit dem IT-Dienstleister Arvato Systems in München und dem Logistikspezialisten Arvato Supply Chain in Gilching ist Arvato auch in Bayern vertreten. Zu den 100 Ausstellern auf der Messe gehören aber auch die Deutsche Bahn oder die Autobahn GmbH, die ebenfalls mit ihren Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz Werbung machen. So fördert die Deutsche Bahn ein LGBT-Netzwerk, über das Beschäftigte miteinander in Kontakt kommen können. Auch nach außen zeigt sich die DB als Unterstützer von Toleranz und Vielfalt, indem an 50 Bahnhöfen die Regenbogenflagge im Wind flattert und ein Intercity in Regenbogenfarben als Pride Ride Lok in Deutschland unterwegs ist.
Nicht auf die Unterstützung durch den Arbeitgeber wollen lesbische Fach- und Führungskräfte warten, die sich bundesweit im Netzwerk Wirtschaftsweiber zusammengeschlossen haben. Bei den Männern sind schwule Führungskräfte und Selbstständige aus ganz Deutschland im Völklinger Kreis (VK) organisiert, die sich in 20 Regionalgruppen treffen, unter anderem in München. VK-Vorstandsmitglied Holger Reuschling verweist auf Studien, wonach 20 bis 60 Prozent der LGBT-Menschen bei der Arbeit ihre sexuelle Orientierung aus Angst vor Nachteilen für sich behalten. „Gerade junge und sehr gut ausgebildete Menschen, die sich im privaten Umfeld offenbart haben, scheuen das Outing beim Eintritt in den Beruf“, sagt Reuschling. „Viele fühlen sich mit diesen Fragen allein und nehmen deswegen mit uns Kontakt auf. Wir bieten ein Netzwerk von Männern in ähnlichen Situationen an. Das ermutigt nicht wenige, sich zu ihrer sexuellen Orientierung zu bekennen“, betont Reuschling. Er hat lange für die Commerzbank gearbeitet und erst im Alter von 43 Jahren im Büro erzählt, dass er mit einem Mann zusammenlebt. „Vorher musste ich lügen, wenn ich gefragt wurde, was ich am Wochenende gemacht habe. So ein Doppelleben kostet Kraft“, sagt der selbstständige Unternehmensberater.
Er sieht die Gefahr des sogenannten pink washing – bei Arbeitgebern, die sich aus Kalkül tolerant geben, um so händeringend gesuchte Fachkräfte anzuwerben und auch neue Kunden zu gewinnen. „Heute sieht man oft homosexuelle Paare in der Werbung, das war vor fünf Jahren noch undenkbar“, so Reuschling. Ob es Unternehmen wirklich ernst meinen mit ihrem Engagement gegen Diskriminierung, könne man unter anderem daran sehen, ob es ein LGBT-Netzwerk für interessierte Beschäftigte gebe.