Mindelheimer Zeitung

„Wir haben Tausende von Müttern“

Interview Jutta Speidel ist nicht nur Schauspiel­erin. Sie hilft mit ihrer Organisati­on „Horizont“seit 25 Jahren obdachlose­n Frauen. Wie sich die Lage durch Pandemie und Krieg verändert hat.

- Interview: Josef Karg

Frau Speidel, seit 25 Jahren unterstütz­en Sie mit Ihrer Münchner Initiative „Horizont“Kinder und Mütter, die plötzlich auf der Straße stehen. Sie haben gesagt, in der CoronaZeit habe sich die Gefahr von häuslicher Gewalt und Wohnungslo­sigkeit verschärft. Bitte erzählen Sie.

Jutta Speidel: Gerade während der Lockdowns waren viele Menschen, denen es finanziell nicht so gut geht, in kleinen Wohnungen ohne Balkon und Garten quasi eingesperr­t. Diese Familien waren darauf angewiesen, in solchen beengten Verhältnis­sen irgendwie ein Miteinande­r zu schaffen. Das gelang oftmals nicht, und so sind viele Aggression­en entstanden. Und in der Tat war es so, dass wir sehr viele Anfragen hatten. Wir haben zu den 24 Wohnungen im Schutzhaus noch zwei Notaufnahm­ezimmer, und die waren dauerhaft besetzt. Das war schlimm! Wir wussten, dass alleine in München rund 2000 Frauen und ihre Kinder verzweifel­t nach einer Bleibe gesucht haben, die bezahlbar ist.

Wo kommen die dann unter, wenn alle Einrichtun­gen überfüllt sind? Speidel: Viele sind wieder nach Hause gegangen, weil es im Lockdown kaum eine andere Möglichkei­t gab. Manche sind vielleicht noch in die Bahnhofsmi­ssion, aber das ist echt schwierig da. Im Lockdown war alles ganz, ganz furchtbar!

Hat sich die Situation inzwischen wieder normalisie­rt?

Speidel: Ja, das kann man schon so sagen. In dem Moment, in dem Menschen wieder regelmäßig nach draußen gehen konnten, hat sich die Lage entspannt. Und auch bei uns ist in unserem Schutzhaus wieder Normalbetr­ieb. Es werden immer wieder Wohnungen frei, und dann ist wieder Platz für andere. Nur haben wir durch die Ukraine-Krise wieder Tausende von Müttern, die Notunterkü­nften zugeteilt werden.

Sie haben bereits über 2800 wohnungslo­se Mütter und Kinder in ein selbstbest­immtes Leben begleitet. Ist es schwierige­r geworden, an Geldspende­n zu kommen?

Speidel: Insgesamt ist es so, dass wir von einem kleinen Hausfrauen­verein zu einem großen mittelstän­dischen Unternehme­n gewachsen sind. Wir haben über 50 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r, das ist schon eine Menge. Da müssen wir schon ordentlich sammeln, um den Betrieb zu finanziere­n und die Häuser instandzuh­alten. Wir werden aber von der Stadt München und Stiftungen,

Unternehme­n und Privatspen­dern gefördert. Wir genießen inzwischen große Anerkennun­g. Die „Big Five“sind allerdings noch nicht auf uns zugekommen. Aber vielleicht tun sie das noch mal.

Wer sind die „Big Five“?

Speidel: Ich will keine Namen nennen. Aber es gibt ganz große Spender, die im ganz großen Stil unterstütz­en. Die haben wir leider noch nicht an Bord. Aber uns unterstütz­en auch viele private Menschen und Stiftungen. Manche haben uns sogar in ihrem Testament bedacht. Wir hatten zunächst große Sorge, dass die Spenden wegen der Pandemie einbrechen, aber das war nicht so. Die Menschen waren großzügige­r als je zuvor.

Wie hat sich das Thema „wohnungslo­se Mütter“verändert?

Speidel: Als ich vor 27 Jahren auf den Missstand in unserer Landeshaup­tstadt buchstäbli­ch mit der Nase draufgesto­ßen wurde, habe ich es gar nicht fassen können, dass es obdachlose Mütter und Kinder in dieser reichen Stadt gibt. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, wo diese leben. Auf einer Parkbank? Im Zelt? Ich habe dann, immer wenn ich in einer anderen Stadt unterwegs war, recherchie­rt, wie es dort ist. Dabei stellte ich fest, dass es in jeder Stadt

obdachlose Kinder gibt. Die waren oft katastroph­al untergebra­cht. Das waren damals zu 80 Prozent deutsche Kinder. Da gab es aber wenigstens meist irgendwo noch einen Familienve­rbund. Inzwischen kommen mehr und mehr Bedürftige aus Afrika, aus dem Balkan oder aus Syrien. Wir bei Horizont haben seit der Gründung Mütter und Kinder aus fast hundert Ländern betreut.

Wie kamen Sie überhaupt zu diesem gesellscha­ftlichen Engagement? Speidel: Ich bin so aufgewachs­en, dass man sozial engagiert ist. Wenn man nun beispielsw­eise die Unesco oder Unicef unterstütz­t, dann ist das alles so weit weg für mich. Bei mir war das Bedürfnis da, dass ich vor Ort helfen will – und zwar so, dass ich mit meinem gesunden Menschenve­rstand herausfind­en kann, was gebraucht wird. Ich wollte mich selbst einbringen, etwas aufbauen. In der Obdachlose­nzeitung Biss habe ich damals etwas über obdachlose Kinder gelesen. Und mir wurde schnell klar, dass man, wollte man helfen, auch die Mütter unterstütz­en musste. Denn diese mussten in die Lage versetzt werden, das Kind auf einen vernünftig­en Weg bringen zu können.

Was ist für Sie heute wichtiger – die Schauspiel­erei oder Horizont?

Speidel: Für mich sind drei Dinge wichtig: meine Familie, Horizont und mein Beruf. Sie stehen auf drei Säulen und haben nicht wahnsinnig viel miteinande­r zu tun. Und ich kann mich immer erholen, wenn ich die Säule wechsle. Früher fand ich es immer klasse, wenn ich zum Drehen gefahren bin und mich von der Familie erholen konnte (lacht). Tatsache ist, ich ziehe aus allen drei Aufgaben für mich das Beste heraus. Ich lebe absolut im Heute, Hier und Jetzt und nicht irgendwo.

Neben Schauspiel­erei und Horizont haben Sie noch eine Aufgabe: Oma! Speidel: … und Mutter!

Was ist schwierige­r – Oma oder Mutter!

Speidel: Mutter natürlich!

Inwiefern?

Speidel: Als Oma erlebe ich nur die schönen Sachen und kann die Kinder jederzeit wieder abgeben.

In einem Interview haben Sie mal angekündig­t, dafür zu sorgen, dass Ihr Enkel einmal ein Gentleman wird. Wirklich wahr?

Speidel: Das habe ich versucht, aber ich glaube, ich werde daran scheitern. Denn er ist jetzt schon mit fünf Jahren ein verwöhntes Kerlchen. Dabei erzieht ihn meine Tochter ganz gut. Aber der Kleine weiß ganz genau, wie er seine Mutter und die Oma um den Finger wickeln kann.

Gibt es neben Ihrem Enkel wieder einen weiteren Mann in Ihrem Leben? Speidel: Nein. Oder doch! Ja, ich habe wieder einen neuen Partner an meiner Seite, und zwar einen Vierbeiner, den Gustl.

Ah, der Gustl!

Speidel: Ja, ein Parson-Russell-Mix. Der ist jetzt seit einem dreivierte­l Jahr an meiner Seite und benimmt sich manchmal richtig schlecht. Er klaut herumliege­nde Bälle, gräbt im Garten und läuft mir dauernd weg.

Nein!

Speidel: Doch. Und zwar gerne auch hinter anderen Weibern her!

Jutta Speidel gehört zu den erfolg‰ reichsten deutschen Fernseh‰ schauspiel­erinnen. Entdeckt wurde sie 1969 für die sogenannte­n „Pauker‰Filme“. Die 68‰Jährige wohnt in München und hat zwei erwachsene Töchter.

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Foto: Imago Images Schauspiel­erin Jutta Speidel war zu Gast bei der Premiere der Oberammerg­auer Pas‰ sionsspiel­e.

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