Francesca Melandri: Alle, außer mir (138)
Stellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in ei ner römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durch gespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
In dem kein Ausdruck von Vorwurf, von Schmerz oder Enttäuschung lag, sondern im Gegenteil und ein schwarzes Gewicht senkte sich schwer auf die Brust des Richters, so dass er kaum noch Luft bekam – ein Lächeln für ihn.
Und wie immer, wenn er an sie dachte, verwandelte sich seine Empörung in Schuldgefühle. Warum nur hatte er sie nicht geheiratet, als es noch erlaubt war? Warum hatte er sie nicht vor dem Gesetz geschützt, sie und ihre Liebe? Jetzt war es zu spät. Der junge Jurist voller Ideale war zum Opportunisten geworden, zu einem Feigling, der ohne große Skrupel diejenige verriet, die er liebte. Denn so lautete die Wahrheit: Er war nicht besser als dieser Profeti mit seinen schamlosen Lügen. Dies war das langfristige Ergebnis solch perverser Gesetze – nicht nur wurden die Unterlegenen gedemütigt, nein, auch die Menschlichkeit derer, die man überlegen nannte, war degradiert.
Der Richter spürte eine vage Erleichterung.
Aber ja, dies war das geistige Klima der Epoche, die ethische Unterdrückung durch schlechte Gesetze, der Machtmissbrauch, der die Bürger – ihn, Profeti, alle Kolonisten, die in der Heuchelei des Madamatos lebten – dazu zwang, gegen die eigenen moralischen Prinzipien zu handeln. Einen kurzen Moment lang sah der Richter die Möglichkeit der Absolution. Einige gesegnete Atemzüge lang konnte er unbelastet Luft in seinen Brustkorb saugen. Die Scham nahm ab.
Doch er wäre nicht der Jurist gewesen, der er war, gerühmt für seinen scharfen Verstand sowie die enzyklopädische Kenntnis der Gesetzestexte, wenn er sich von der Schimäre hätte einlullen lassen, jegliche persönliche Verantwortung ablegen zu können. Und nachdem er die Anklage, die Verteidigung und die Zeugen beider Seiten gehört hatte, nachdem er erschwerende und mildernde Umstände gegeneinander abgewogen hatte, sprach der hochangesehene Richter Ascanio Carnaroli sein Urteil. Der Verachtenswerteste und Heuchlerischste von allen war er. Im Vergleich zu ihm konnte man diesen nichtsnutzigen und gemeinen Lügner von Schwarzhemd Profeti Attilio geradezu unschuldig nennen. Angesichts der erdrückenden Beweislast war der Generalkonsul der Freiwilligenmiliz überrascht, dass Profeti von der Anklage, das Ansehen der Rasse geschädigt zu haben, freigesprochen wurde. Gleichzeitig war er sehr erleichtert. Die Verurteilung eines glorreichen Veteranen vom Amba Work nutzte niemandem. Dennoch durfte er dem Scharführer nicht erlauben, weiterhin sein zurückgezogenes Leben im Büro des Zensors zu führen, und schon gar nicht, Abend für Abend in die Arme seiner Madama zurückzukehren. Er musste eine neue Aufgabe für ihn finden, das war kein Problem. Es gab genug Regionen in Aufruhr. Der Godscham, der Wollo, der Shoa: alles Orte, wo man Widerstand säte und Rebellen erntete.
Attilio Profeti würde erneut das Imperium verteidigen, bei der Kolonialpolizei.
Das Vaterland überlässt man nicht dem Invasor nirgendwo sonst kannst du hin. Der Tag deines Todes im Krieg gleicht einem hochzeitstag.
Sie sangen ihre Lieder des Widerstands, um die langen Tage der
Dunkelheit zu ertragen. Seit Monaten lebten sie nun schon in der Höhle. Sie hatten Körbe mit Korn hereingeschleppt, Wasserschläuche, Steinmühlen, Kohlebecken, sogar Ziegen. Sie waren zu Hunderten, jeden Alters, ihre Haut verblichen vor Mangel an Licht und Luft.
Von außen war die Grotte ein Messerstich in der Felsbastion, die sich bis hinauf zur meda erhob, dem flachen Dach der Hochebene. Das Sonnenlicht fiel hell in den Höhleneingang, doch schnell zogen sich die gelben Felswände zusammen, und es herrschte Dunkelheit. Nach wenigen Dutzend Metern musste man kriechen, die spitzen Vorsprünge der schmalen Durchgänge drohten sich in den Schädel zu bohren. Dort begann das Reich der Finsternis. Wenn man es durch den langen dunklen Stollengang geschafft hatte, öffnete sich die Höhle zu einem großen Uterus im Felsen. Dies war nun ihr Heim.
Wieder und wieder waren die Bomber über ihr Dorf auf der meda geflogen, weil sie dem Feind die Partisanen nicht ausliefern wollten, die von den talian Banditen genannt wurden – shifta. Also hatten sie sich unter die Erde zurückgezogen, zu den Fledermäusen und Regenwürmern, doch gut geschützt vor dem Regen aus Feuer und Gift. Sie hatten sich unter die Erde gebracht wie
Tote, um am Leben zu bleiben. In mondhellen Nächten gingen die Erwachsenen hinaus, um an den unwegsamsten Abhängen zu jagen, unerreichbar für die Autokolonnen der Invasoren. Gewehre konnten sie nicht benutzen, zu laut. Sie brachten magere Beute zu den Ausgehungerten in die Höhle, aus Schlingen und Fangeisen: Perlhühner, Moorhühner, Pavianjunge, an guten Tagen eine Gazelle. Manchmal fielen sie in die Dörfer der Kollaborateure ein und stahlen einen Korb teff, einen Sack Kichererbsen, ein, zwei Hühner. Die anderen, vor allem die Jüngeren, näherten sich nie dem Höhlenausgang. Jedes Geräusch musste unterbleiben, um nicht die Aufmerksamkeit der Kolonialtrupps auf sich zu ziehen. Die meisten von ihnen hatten seit Wochen keine Sonne mehr erblickt.
Von den Alten mit ihren milchigen Augen hatten sie gelernt, sich zu bewegen, ohne zu sehen: maßvolle Bewegungen, feines Gehör, die Entdeckung des Tastsinns. Selbst die Kinder hatten gelernt, sich am Widerhall des eigenen Atems zu orientieren, wie Fledermäuse. Viele waren mit der Zeit tatsächlich erblindet. Tränen waren zu einem klebrigen Serum geworden, die Bindehaut eine trockene Kruste, die Augen unbrauchbare Schlitze, die brannten, wenn man sie nicht geschlossen hielt. Der Boden der Höhle war mit reinem Staub bedeckt, der bei jedem Schritt aufwirbelte und in die Poren drang. Auch die Kleinsten, die gerade erst laufen gelernt hatten, verhielten sich ruhig, um ihn nicht unnötig herumzuwirbeln. Die Mütter hielten sie bei sich, mit Hilfe eines Stofffetzens, den sie zwischen die Zähne klemmten, während sie mit geschlossenen Lidern das teff mahlten. Für diese vertrauten Bewegungen hatten sie auch früher die Augen nicht gebraucht, in der Welt dort oben, als noch Wolken über den Himmel zogen und nicht Flugzeuge, aus denen der Tod herabregnete.
Um die knappe Luft in der Höhle nicht zu verbrauchen, entzündeten sie nur selten die Fackeln. Dann stiegen gespenstische Lichtsäulen aus Staub auf, und vermischt mit dem dicken Rauch der Kohlebecken griffen sie die Haut an, verstopften die Lungen, ließen die Schwachbrüstigen und Kinder sterben. Wenn Babys auf die Welt kamen, war ihre Haut gelblich und ihr Atem rasselnd. Viele überlebten nicht. Ihre Leichen wurden noch tiefer in die Stollen geschafft, in die schwarzen Eingeweide der Hochebene. Bevor sie sie allein ließen, leisteten sie einen Schwur: Am Ende der Besatzung kommen wir zurück und beerdigen euch christlich.