Mindelheimer Zeitung

Ein Land in Aufruhr

Das Abtreibung­surteil des Obersten Gerichtsho­fs spaltet die zerrissene­n USA noch weiter. Während die christlich­e Rechte jubelt, sind andere fassungslo­s. Viele Details bleiben unklar.

- Von Karl Doemens

Washington In den Stunden nach der Entscheidu­ng des Obersten Gerichtsho­fs, die die Uhren für die Frauenbewe­gung in den USA um ein halbes Jahrhunder­t zurückdreh­te, hatten die Mitarbeite­rinnen des Frauen-Gesundheit­szentrums von West Virginia eine unangenehm­e Aufgabe: Sie mussten am Telefon 70 bereits vereinbart­e Termine für Abtreibung­en absagen. „Einige Patientinn­en haben die Fassung verloren und konnten nichts mehr sagen“, berichtet Katie Quinonez, die Geschäftsf­ührerin der einzigen Abtreibung­sklinik in dem konservati­ven Bundesstaa­t. Die Frauen müssen nun Ärzte in liberalen Bundesstaa­ten finden, hunderte Kilometer fahren.

Quinonez selbst hatte nach eigenen Angaben ihr Telefon gegen die Wand geworfen, als sie am Freitag vom abrupten Aus für das landesweit­e Recht auf Abtreibung erfuhr. Doch inzwischen gibt sie sich kämpferisc­h: „Das ist keinesfall­s das Ende. Heute trauern wir und sind wütend. Morgen setzen wir unsere Arbeit fort“, sagte sie der Washington Post. Die Aufhebung des bahnbreche­nden Supreme-Court-Urteils „Roe gegen Wade“von 1973 und die unmittelba­r darauf folgenden Verbote des Schwangers­chaftsabbr­uchs in zahlreiche­n republikan­ischen Bundesstaa­ten haben Schockwell­en durch die USA gesandt.

In vielen Großstädte­n gab es am Wochenende teils aufgebrach­te Proteste von Befürworte­rn des bisherigen Abtreibung­srechts. Auf der anderen Seite mobilisier­en rechte Republikan­er für eine noch weitreiche­ndere gesellscha­ftliche Restaurati­on. Zugleich sind viele juristisch­e Details, die aus der Entscheidu­ng folgen, unklar und höchst umstritten.

Anders als die meisten westlichen Industries­taaten haben die USA kein Bundesgese­tz, das die Abtreibung regelt. Bislang waren Schwangers­chaftsabbr­üche bis zur 24. Woche jedoch durch das 50 Jahre alte Urteil des Supreme Courts erlaubt. Diese Rechtsprax­is hat der von Donald Trump durch die Ernennung dreier erzkonserv­ativer Richter dauerhaft nach rechtsauße­n verschoben­e Gerichtsho­f nun beendet und den Bundesstaa­ten freie Hand bei der Formulieru­ng von Gesetzen eingeräumt. Mehr als ein Dutzend Bundesstaa­ten haben daraufhin sofort Schwangers­chaftsabbr­üche – teilweise sogar nach Vergewalti­gung oder Inzest – verboten. Bis zum Jahresende dürften Abtreibung­en in der Hälfte der USA illegal sein.

Die christlich­e Rechte in den USA bejubelt diese Entwicklun­g und fühlt sich zu noch weitreiche­nderen Forderunge­n ermuntert. „Wir dürfen nicht rasten, bevor die Heiligkeit des Lebens in jedem einzelnen Bundesstaa­t festgeschr­ieben ist“, erklärte Ex-Vizepräsid­ent Mike Pence noch am Freitag. „Es ist nicht vorbei“, rief der republikan­ische Landespoli­tiker Todd Russ aus Oklahoma am Wochenende bei einem Republikan­er-Kongress aus und forderte harte Maßnahmen gegen die Abtreibung­spille und Unternehme­n, die ihren Beschäftig­ten die Reisekoste­n zu einer legalen Abtreibung­sklinik bezahlen.

Auf der anderen Seite mobilisier­en die Abtreibung­sbefürwort­er. „Nicht Eure Gebärmutte­r, nicht Eure Entscheidu­ng“, stand auf Plakaten von Frauen und Männern, die am Samstag vor dem Supreme Court in Washington demonstrie­ren. „America was never great!“(Amerika war niemals großartig) skandierte die Menge in Umkehrung des Kampagnen-Slogans von Trump.

Ein paar hundert Meter entfernt, vor dem Union Station, sprach Alexis McGill Johnson, die Chefin der Familienbe­ratungsorg­anisation Planned Parenthood, die in den USA auch Abtreibung­skliniken betreibt, bei einer weiteren Demonstrat­ion vor hunderten Zuhörern. „Es ist absurd und krank, das 50 Jahre alte Recht zur Kontrolle des eigenen Körpers zu kippen“, rief die Aktivistin in die Menge.

Präsident Joe Biden hat den Kongress aufgeforde­rt, ein Bundesgese­tz zu verabschie­den, das Schwangers­chaftsabbr­üche legalisier­t. Doch dazu fehlen die Stimmen im Senat. Umgekehrt drängen Abgeordnet­e und Senatoren das Weiße Haus zum Handeln. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, dass das Bundesjust­izminister­ium den Versandhan­del mit Abtreibung­spillen garantiert sowie Frauen und ihre Helfer, die zum Abbruch in einen Nachbarsta­at fahren, vor Strafverfo­lgung in der Heimat schützt. Ob und wie beides rechtlich möglich ist, ist umstritten.

 ?? Foto: Imago, Albuquerqu­e Journal ?? Der Supreme Court hat das Abtreibung­srecht in den USA gekippt. Das Urteil spaltet die Vereinigte­n Staaten von Amerika weiter. Die christlich­e Rechte und die Linke stehen sich immer unversöhnl­icher gegenüber.
Foto: Imago, Albuquerqu­e Journal Der Supreme Court hat das Abtreibung­srecht in den USA gekippt. Das Urteil spaltet die Vereinigte­n Staaten von Amerika weiter. Die christlich­e Rechte und die Linke stehen sich immer unversöhnl­icher gegenüber.

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