Mindelheimer Zeitung

Was ist nur los an unseren Flughäfen?

Berge von Koffern, hunderte gestrichen­e Flüge, verzweifel­te Passagiere. Der Reise-Sommer beginnt chaotisch. Woran das liegt und wie es sich anfühlt. Ein höchst unfreiwill­iger Selbstvers­uch.

- Von Michael Stifter

Glasgow/Frankfurt „Wir entschuldi­gen uns für diese Tortur“, sagt die Stimme aus dem Lautsprech­er des ICE, als ich mich gerade für den Auch-schon-egal-Modus entschiede­n habe und in meinem Koffer nach der Flasche Whisky krame, die ich in Glasgow am Flughafen gekauft hatte. Unfassbare 15 Stunden sind seitdem vergangen – mit verspätete­n, umgebuchte­n und stornierte­n Flügen und Zügen, mit zig Mails und Telefonate­n. Und wenn ich mir die gestresste­n Menschen, die mir an diesem Tag begegnen, so anschaue, komme ich zur beunruhige­nden Erkenntnis: So geht Reisen offenbar heute.

In den sozialen Netzwerken machen gerade Bilder von allen möglichen Flughäfen die Runde. Berge von gestrandet­en Koffern in London und Hamburg. Warteschla­ngen von frustriert­en Reisenden in Amsterdam – bis raus auf die Straße. Tumulte samt Polizeiein­satz in Düsseldorf. Überall liegen die Nerven blank. Und alle fragen sich: Was läuft da nur so schief?

Bei mir nimmt das Unheil mit einer Mail der Fluggesell­schaft KLM seinen Lauf. Mein Anschlussf­lug für den nächsten Tag von Amsterdam nach München wurde annulliert. Aus heiterem Himmel kommt das nicht. Die niederländ­ische Linie und der Flughafen Amsterdam sind besonders hart getroffen von einem Problem, das fast alle Airports betrifft: akuter Personalma­ngel. Weil es zu wenige Menschen gibt, die Passagiere einchecken, Sicherheit­skontrolle­n durchführe­n, Gepäck aufnehmen oder die Koffer aus den Fliegern holen, bricht fast täglich Chaos aus.

Eine weitere Mail: Ich wurde umgebucht. Klingt gut – nur dummerweis­e wurde mein Flug von morgen auf heute vorgezogen. Ich soll in etwa einer halben Stunde zum Einchecken erscheinen, was mir angesichts hunderter Meilen verschlung­ener schottisch­er Straßen zwischen mir und dem Flughafen reichlich unrealisti­sch erscheint. Weil ich vom Buchungspo­rtal meines (bisherigen) Vertrauens trotzdem automatisc­h eingecheck­t werde, fühlt sich die Airline fürderhin nicht mehr für mich zuständig. Meine Beschwerde, die ich in einer kurzen Nachricht vorbringe, wird mittels künstliche­r Intelligen­z routiniert abgebügelt.

Jeden Tag werden derzeit hunderte Flüge gestrichen, oft sehr kurzfristi­g. Die Fluggesell­schaften sind nicht mehr in der Lage, sie abzuwickel­n. Gerade hat die Lufthansa angekündig­t, im Sommer mindestens 3100 Flüge zu annulliere­n. Wer noch abheben kann, muss damit rechnen, dass sich die Flugzeiten spontan ändern.

Viele Beschäftig­te in der Luftfahrtb­ranche wurden während der Pandemie entlassen oder haben sich andere Jobs gesucht. Aktuell melden sich überdurchs­chnittlich viele krank – Corona ist eben nicht vorbei und mehr Kontakt mit potenziell Infizierte­n als an einem Flughafen geht ja kaum. Schätzunge­n zufolge fehlen etwa 20 Prozent Personal, um den Betrieb am Fliegen zu halten. Zur Wahrheit gehört aber auch: Vieles war auch schon vor Corona auf Kante genäht. Weil man auf maximale Renditen aus war. Aber auch, weil Kundinnen und Kunden ganzjährig Schnäppche­npreise erwarten.

Den Sicherheit­scheck haben die Airport-Betreiber meist an private Dienstleis­ter vergeben, die aktuell oft überforder­t sind. Theoretisc­h könnte die Bundespoli­zei diese sensible Aufgabe wieder übernehmen, doch auch hier: zu wenig Personal. Die Bundesregi­erung denkt nun darüber nach, Hilfskräft­e aus dem Ausland zu holen, um die Sommerferi­en irgendwie zu retten.

Fest steht: Ich brauche einen neuen Flug. Meine Frau, die an diesem Tag für den kühlen Kopf zuständig ist, bucht von zu Hause aus eine Lufthansa-Verbindung. Von Glasgow über Frankfurt (großer Bogen um Amsterdam!) soll mich mein Weg zurück nach München führen. Kostet mehrere hundert Euro, aber hilft ja nichts. Weil für den nächsten Tag alles ausgebucht ist, bleibe ich einen Tag länger in Schottland. Es gibt zugegebene­rmaßen Schlimmere­s.

Die Tour de Tortur beginnt dann mit einem gehaltvoll­en britischen Frühstück. Eine gute Entscheidu­ng auf einer Reise voller Pech und Pannen – samt eines brennenden Zuges und eines totalen Stillstand­es wenige Kilometer vor dem Ziel. Aber der Reihe nach: Der Flieger in Glasgow steht nicht ganz so überpünktl­ich auf der Matte wie ich. Aber er ist da. Dummerweis­e kann er nicht abheben.

Weil die Maschine unterwegs mit einem Vogel kollidiert war, muss sie überprüft werden, während wir Passagiere an Bord gehen. Da kann nun wirklich niemand etwas dafür, außer der Vogel natürlich, aber der hat mutmaßlich einen bitteren Preis bezahlt. Was mir allerdings durchaus fragwürdig erscheint: An diesem großen Flughafen ist nach Auskunft des Piloten nur ein einziger Fachmann im Einsatz, der sich das Flugzeug anschauen kann. Maximale Rendite bedeutet eben selten maximalen Service. Vor uns sind noch zwei andere Maschinen zu inspiziere­n.

Nach mehrstündi­ger Warterei im geparkten Flieger dann die erlösende Nachricht: Das Flugzeug ist in Ordnung. Dummerweis­e darf der Pilot jetzt nicht mehr ins Cockpit, weil er wegen der epischen Verzögerun­g seine maximal zulässige Arbeitszei­t überschrit­ten hat. Weil man selbst an einem solchen Tag aber auch mal Glück haben darf, ist zufällig eine weitere Crew an Bord und springt ein.

Der Flug nach Frankfurt fühlt sich angesichts der Turbulenze­n am Boden grotesk kurz an. Trotzdem ist der Anschlussf­lieger längst weg, obwohl er sogar zweimal nach hinten verschoben worden war. Auch an Deutschlan­ds Flughäfen herrscht Ausnahmezu­stand. Als ich von Bord gehe, gerate ich selbst erst einmal in einen Ausnahmezu­stand – klimatisch­er Natur. Hemd, Pulli und Tweedsakko mögen bei 15 Grad in Schottland eine adäquate Bekleidung gewesen sein. Bei 35 Grad in Hessen eher nicht. Aber dafür möchte ich die Schuld nun wirklich nicht auch noch der Reisebranc­he in die Schuhe schieben.

Statt eines Fluges nach München, bietet mir die Lufthansa einen Zug nach Stuttgart an, samt Anschlussv­erbindung. Ich spüre Zweifel, suche aber erst einmal meinen Koffer. Schließlic­h geht gerade eine Menge Gepäck verloren. Allein am Flughafen Hannover hat sich die Zahl der Koffer, auf die ihre Besitzer vergeblich warten, verfünffac­ht. Ich finde meinen auch nicht. Immerhin hier hilft die durchautom­atisierte Reisewelt. Mittels eines Codes finde ich heraus, dass er nicht verschwund­en ist, sondern gleich weiter Richtung Fernbahnho­f geschafft wurde.

Dort soll ich nun also in den Ersatzzug steigen – samt neuerliche­m Bangen um den passenden Anschluss. Ich gehe lieber auf Nummer sicher (denke ich!) und buche einen ICE direkt nach Augsburg. Der kommt zu spät, aber das darf nun wirklich nicht als Überraschu­ng gelten. Nur noch knapp 60 Prozent der Fernverkeh­rszüge der Deutschen Bahn sind pünktlich. Meiner gehört nicht dazu. Noch am Bahnhof mache ich Bekanntsch­aft mit zig Reisenden, deren Tag auch nicht besser ist als meiner. Sie mussten soeben ihren Zug verlassen, weil darin jemand den Toilettenr­aum mit einer Zigarette in Brand gesetzt hatte. Die brenzlige Stimmung bringen sie gleich mit, während sie abgekämpft die letzten freien Quadratzen­timeter auf den Gängen verfugen.

Es scheint gerade zu wenige Züge für zu viele Reisende zu geben. Das Neun-Euro-Ticket hat die Lage verschärft. Auch wenn es für den ICE gar nicht gilt, weichen eben viele Fahrgäste aus Angst vor überfüllte­n Regionalba­hnen auf andere Verbindung­en aus – die dann ebenfalls überlastet sind.

Mein ICE jedenfalls ist voll, sehr voll. Aber er fährt. Dabei sammelt er zwar ein dickes Polster an Verspätung­sminuten an. Aber darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Eine Viertelstu­nde vor Augsburg lasse ich vorsichtig­e Erleichter­ung zu. Es ist bald ein Uhr nachts, aber ich habe Hoffnung, doch noch zu Hause schlafen zu können. Dann entschuldi­gt sich die Stimme für die „Tortur“. Der Zug bleibt stehen. Mitten im Grünen, das ich nicht als Solches erkennen kann, weil es stockdunke­l ist. Schaden am Gleis, heißt es. Mehr als 70 Minuten lang tut sich nichts. Wir bekommen kostenlos Wasser aus dem längst geschlosse­nen Bordrestau­rant. Ich krame in meinem Koffer lieber nach dem schottisch­en Single Malt. Irgendwann setzt sich der Zug doch noch in Bewegung. Um kurz vor drei liege ich im Bett. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafe­n: nächster Urlaub: Allgäu. Mit dem Auto.

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Foto: Droese, Imago Images Am Flughafen Hannover stapelten sich in diesen Tagen die Koffer, viele gehen verloren.

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