Mindelheimer Zeitung

„Das ist das Problem mit der Moral in der Politik“

Sozialphil­osoph Hans Joas spricht über eine historisch neue Lage, in der die Menschheit ist. Er erklärt Grundlegen­des im Verhältnis des Westens zu Indien, China, Russland und dem Islam – aber auch das Verhängnis der aktuellen Geschlecht­erdebatten.

- Interview: Wolfgang Schütz

Herr Joas, mit der Klimakrise stehen wir vor einer Herausford­erung, in der die ganze Menschheit sich als Schicksals­gemeinscha­ft sehen könnte, vielleicht müsste – das erste Mal in der Geschichte?

Hans Joas: Ich würde unterschei­den zwischen gemeinsame­r Betroffenh­eit von Problemen und gemeinsam wahrgenomm­ener Verantwort­ung. Wenn wir von Betroffenh­eit reden, dann geht der gegenwärti­gen Situation im Sinne weltweiter Bedeutung sicher einiges voraus, zum Beispiel die beiden Weltkriege im 20. Jahrhunder­t und die Weltwirtsc­haftskrise. Aber das ist natürlich etwas ganz anderes als die Wahrnehmun­g einer gemeinsame­n Verantwort­ung. Da ist am ehesten an die sogenannte­n Weltreligi­onen zu denken, Gruppen von Gläubigen, die größer wurden und auch zu wissen beanspruch­ten, was wichtig ist für das Heil der ganzen Welt. Aber wenn man das beides nun zusammenbr­ingt, die Betroffenh­eit und die gemeinsam wahrgenomm­ene Verantwort­ung, dann ist sicherlich etwas Neues in der Gegenwart da. In Hinsicht auf die Klimakrise, allerdings auch in Hinsicht auf die wirtschaft­liche Lage. Aber natürlich darf in dem Pathos der gemeinsame­n Verantwort­ung das Verursache­rprinzip nicht ganz untergehen.

Inwiefern?

Joas: Ich kann nachvollzi­ehen, wenn außerhalb Europas und Nordamerik­as gesagt wird: Erst erreicht ihr durch die Ausnutzung fossiler Energien, Rohstoffen aus aller Welt und Sklavenarb­eit euer Wohlstands­niveau – und dann sollen wir, wenn wir dasselbe Niveau anstreben, es nicht mehr erreichen dürfen, weil ihr sagt, es gebe starke ökologisch­e Gründe, die dagegenspr­echen… Da überdeckt dieses Wort der Verantwort­ungs- und Schicksals­gemeinscha­ft einiges an globalen Ungleichhe­iten.

Wenn alle jetzt also an das Wohl aller denken sollten: Was lässt sich aus der Geschichte moralische­r Konflikte lernen?

Joas: Nehmen wir nur das 20. Jahrhunder­t, da gibt es zwei besonders anschaulic­he Konstellat­ionen. Zum einen die amerikanis­che Bürgerrech­tsbewegung um Martin Luther King. Das war eine zutiefst christlich­e Bewegung zur Gleichbere­chtigung der Schwarzen in den amerikanis­chen Südstaaten – aber auf der anderen Seite waren auch diejenigen, die die Rassentren­nung dort verteidigt haben wie vorher die Sklaverei, allergrößt­enteils tiefgläubi­ge Christen. Angesicht dessen kann man weder behaupten, dass die christlich­e Religion immer schon eine Religion der Freiheit war, noch, dass sie immer bloß ein ideologisc­hes Mittel der Unterdrück­ung gewesen sei.

Und zum anderen?

Joas: Gandhi und die antikoloni­ale Bewegung in Indien. Denn da ist die britische Kolonialma­cht, die ihre wahrlich vorhandene­n Eigeninter­essen universali­stisch rechtferti­gte, anfangs christlich, dann immer mehr mit dem Gestus der zivilisato­rischen Überlegenh­eit. Und Gandhi hält dagegen: Euren Universali­smus grundsätzl­ich in allen Ehren – aber wir erleben, dass er bei euch heuchleris­ch und nur Fassade ist. Dagegen sagen wir jetzt aber nicht: Wir bekämpfen diesen Universali­smus des Westens. Sondern ich zeige, dass sich aus indischen spirituell­en und religiösen Traditione­n ein authentisc­herer Universali­smus gewinnen lässt, der uns anleitet bei unserem Widerstand gegen eure Kolonialhe­rrschaft.

Das im Westen verbreitet­e Gefühl ist aber noch immer, dass die hehren moralische­n Werte eine hiesige Errungensc­haft seien, dass etwa der Islam erst mal so etwas wie eine Aufklärung durchlaufe­n müsste …

Joas: Es gibt im Westen zwei Monopol-Ansprüche. Der eine ist zu sagen: Das liegt am Christentu­m oder an der jüdisch-christlich­en Tradition. Der andere: Das liegt an der Aufklärung. Aber es gibt eben nachweisli­ch eine Entwicklun­g des moralische­n Universali­smus abseits von beidem, zum Beispiel den frühen Buddhismus und den frühen Konfuziani­smus. Die haben ihre politische­n Anpassunge­n erlebt – aber das Christentu­m ja auch, spätestens durch das Römische Reich unter Kaiser Konstantin, der zum Christentu­m übertrat, durch den aber auch der Anspruch des moralische­n Universali­smus zum Legitimati­onsmittel eines Imperiums wurde.

Und der Islam?

Joas: Ist ein schwierige­r Fall. Von Hause aus halte ich ihn für einen Universali­smus; das hat ihn ja auch gerade zu seiner grobestand ßen Ausdehnung befähigt und zu seiner kulturelle­n Unabhängig­keit gegenüber der arabischen Kultur. Das wird abgewehrt im Westen, indem die Expansion oft als ausschließ­lich gewaltvoll­e geschilder­t wird – aber das ist ein in Zeiten des islamistis­chen Terrorismu­s wiederbele­btes Feindbild, das so für den Raum von Iran bis Indonesien, aber auch für den Islam in Afrika nun wirklich keine allgemein zutreffend­e Beschreibu­ng ist.

Das heißt, dass sich bei einer gemeinsame­n globalen Verantwort­ung überall an Traditione­n anknüpfen ließe?

Joas: Ja. Der Pionier eines solchen Denkens im 20. Jahrhunder­ts war Karl Jaspers mit der sensatione­llen These von der Achsenzeit. Demnach entstand eine Art Menschheit­sethos in etwa derselben Epoche im antiken Griechenla­nd, Israel, China und

Indien – und wahrschein­lich auch im Iran. Die Pointe war schon damals: Damit sich nichts Eigensücht­iges hineinmisc­ht, sollen die universali­stischen Potenziale dieser Traditione­n in ihrer Selbstentf­altung unterstütz­t werden, wodurch ein moralische­s Bündnis über alle Grenzen und Unterschie­de der Religionen hinweg geschmiede­t werden kann.

Wie soll das gehen?

Joas: Mich interessie­ren die historisch­en Fälle dieser Art sehr. Eine Vernetzung hat es etwa schon bei Gandhi gegeben. Der hat bekanntlic­h an Tolstoi geschriebe­n und war wiederum für Martin Luther King eine Orientieru­ng. Es gibt nachweisba­re Wechselwir­kungen dieser Art, bis heute. Und das jetzige China von Xi Jinping bezieht sich sogar selber auf Jaspers und die Achsenzeit – aber leider missbräuch­lich.

Inwiefern?

Joas: Es argumentie­rt damit, dass die chinesisch­e Kultur schon immer fundamenta­l unabhängig und unterschie­dlich von der westlichen Kultur gewesen sei. Dabei die Pointe ja darin zu sagen: Ihr könnt den Maßstab des moralische­n Universali­smus als Maßstab eurer Politik akzeptiere­n, ohne dass dieser Maßstab als ein kulturell importiert­er zu gelten hat, weil er in eurer eigenen Tradition liegt. Aber die Auslegung der Geschichte ist in China natürlich von extremer politische­r Brisanz und streng ideologisc­h durchdrung­en.

Wie in Russland?

Joas: Russland ist in dieser Hinsicht ähnlich dem, was in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunder­ts eine große Rolle gespielt hat, wo spätestens nach den Napoleonis­chen Kriegen das Deutsche im Gegensatz zum Rationalis­mus der Franzosen und zum Utilitaris­mus der Briten definiert wurde. Wir, so hieß es auch bei den größten Geistern wie Thomas Mann, haben dagegen zum Beispiel die Musik entwickelt. Und ich sehe mit großem Unbehagen, dass es in einflussre­ichen Kreisen in Russland jetzt eine solche anti-europäisch­e Selbstdefi­nition gibt – dass es aber auch bei uns eine Stereotypi­sierung des Russischen gibt hin zum Barbarisch­en, die typisch ist für Kriegssitu­ationen, der aber eigentlich alle Menschen, besonders die mit historisch­er Bildung, entgegentr­eten sollten.

Und innenpolit­isch? Auch die Emanzipati­onsbewegun­g der Identitäts­politik tritt ja mit großem moralische­n Gestus auf…

Joas: Hier taucht etwas wieder auf, was man bei Martin Luther King schon sieht: Der hatte es auf der schwarzen Seite auch schon immer mit einigen zu tun, die geleitet waren von Rachemotiv­en für das eigene Unterdrück­t-worden-Sein, nach dem Motto: Zur Vergeltung drehen wir jetzt den Spieß mal um. Aber King hat energisch dafür gekämpft, den Universali­smus nicht aus den Augen zu verlieren. Denn die große Falle ist doch, dass eine Ungerechti­gkeit nur durch eine andere abgelöst wird – und nicht durch höhere Gerechtigk­eit. Und das könnte auch heute ein Ausweg aus bloßen Identitäts­diskussion­en sein, auch in ganz anderen Gebieten.

Zum Beispiel?

Joas: Kann eine jahrhunder­telange Benachteil­igung der Frauen durch plötzliche, sehr starke Bevorzugun­g von Frauen ausgeglich­en werden? Das darf man unter universali­stischen Gesichtspu­nkten fragen, denn derjenige, der heute das Nachsehen hat, ist ja nicht der, der früher bevorzugt wurde. Es sind verschiede­ne Menschen, von denen wir reden. Und es ist nur nachvollzi­ehbar, dass manche es als ungerecht empfinden, wenn man ihnen die Verantwort­ung für historisch­e Verhältnis­se stellvertr­etend zuschreibt. Aber das ist alles vermintes Gelände, über das man eigentlich nur in großer Ruhe und Fairness reden kann, sonst klingt alles immer gleich falsch. Bloß, genau diese Ruhe und Fairness und damit die Möglichkei­t zur Verständig­ung finden sich heute in den von den sogenannte­n Sozialen Medien angeheizte­n Debatten leider immer weniger.

In welchem Verhältnis sollten Moral und Politik im besten Fall stehen?

„Die große Falle ist, dass die eine Ungerechti­gkeit nur durch eine andere abgelöst wird.“

Joas: Für mich sagt da ein Zitat von Abraham Lincoln das Entscheide­nde, freilich in der Art des 19. Jahrhunder­ts in Amerika: „Wir sollten nie sagen, Gott steht auf unserer Seite. Sondern wir sollten uns stets fragen: Stehen wir auf Gottes Seite?“Und das lässt sich auf die Frage des moralische­n Standpunkt­es übertragen: Nimm nicht in Anspruch, du seiest die Verkörperu­ng des Richtigen – sondern verwende deinen hohen moralische­n Maßstab für die selbstkrit­ische Beurteilun­g dessen, was du tust. Denn das ist die Gefahr mit der Moral in der Politik: Dass man sich selbst ganz auf der Seite des Guten sieht – als „God’s own Country“, als Hort der Zivilisier­theit – und damit meint, auch alles, was man tut, sei gut. Dabei ist die Moral hier oft nur ein Mäntelchen für ganz andere Interessen.

Zur Person

Hans Joas, 73, ist einer der bedeutends­ten Soziologen der Gegenwart. Der gebürtige Münchner lehrt an der Berliner Humboldt-Universitä­t und ist Autor zahlreiche­r Bücher, zuletzt „Warum Kirche?“(Herder-Verlag). Joas hält als Gastdozent am Jakob-Fugger-Zentrum der Universitä­t Augsburg zwischen 28.6 und 5.7. drei öffentlich­e Vorträge – bei freiem Eintritt nach Anmeldung ( www.uni-augsburg.de unter Campuslebe­n, Öffentlich­e Veranstalt­ungen).

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Foto: Katharina Ebel, KNA Hans Joas forscht und lehrt in Fragen der Werte und ihrer Entwicklun­g. Sein aktuelles Projekt „Moralische­r Unversalis­mus“– die Ausrichtun­g am Wohle aller.

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