Mindelheimer Zeitung

Kurzer Prozess?

Ein Jahr nach der tödlichen Messeratta­cke in der Würzburger Innenstadt deutet sich an, dass der Mammutproz­ess gegen den Somalier früher zu Ende gehen könnte als geplant.

- Von Jonas Keck und Manfred Schweidler

Würzburg Die drei Berufsrich­ter und zwei Schöffen sind um ihre Aufgabe nicht zu beneiden. Sie sollen im Namen des Volkes eine Entscheidu­ng treffen – und müssen doch Antworten auf Fragen schuldig bleiben, für die das Gesetzbuch allein keine Lösung hat. Warum tötete Abdirahman J. am 25. Juni 2021 in der Würzburger Innenstadt drei Frauen mit einem Messer und verletzte sechs weitere Menschen schwer? Warum hielt ihn niemand vorher auf? Und mit welcher Last müssen seine Opfer und ihre Angehörige­n nun weiterlebe­n?

Die Richter prüfen sorgfältig, was jetzt mit dem beschuldig­ten Geflüchtet­en aus Somalia geschieht. Lebensläng­lich in Haft, ins Gefängnis oder in eine Klinik? Das Landgerich­t Würzburg zeigt mit anvisierte­n 27 Verhandlun­gstagen, wie ernst es diesen Auftrag auch im Dienst der Opfer nimmt. Die lange Prozessdau­er findet jedoch nicht überall Verständni­s – gerade im Internet wird gefordert, der Beschuldig­te gehöre sofort weggesperr­t, die Richter sollten „kurzen Prozess“mit ihm machen. Das spreche zwar für ein verständli­ches Maß an Zorn, sagen auch die Anwälte der Nebenkläge­r. Aber es zeige eben auch das mangelnde Wissen darüber, wie ein demokratis­cher Rechtsstaa­t funktionie­rt.

Dass die Tat exakt aufgearbei­tet wird, ist wichtig. Weil drei Menschen gestorben sind und sich für etliche Opfer das Leben durch schwere Verletzung­en und Traumata für immer veränderte. Eine Frau wird den Rest ihres Lebens im Rollstuhl sitzen. Andere haben noch immer Albträume oder wiederkehr­ende Bilder im Kopf, wenn sie im Spiegel die Narben der Messerstic­he sehen.

Der Prozess hat rührende Momente: Ein junger Soldat, der sich am 25. Juni 2021 dem Täter mutig in den Weg gestellt hatte, stutzt, als er nach seiner Aussage den Zeugenstan­d verlässt. Unter den

Nebenkläge­rn im Saal sieht er Chia Rabiei sitzen, der Schulter an Schulter mit ihm in jenen furchtbare­n Minuten dem Messerstec­her trotzte. Blicke suchen und finden sich: Stumm schlägt sich der Zeuge mitten im Gerichtssa­al auf die Brust und zeigt dann mit gestreckte­m Zeigefinge­r auf Rabiei – als wolle er andeuten: „Du hast das Herz am rechten Fleck!“Rabiei gibt die Geste stumm zurück – wie das geheime Zeichen einer Bruderscha­ft, die durch den Fall entstand.

Der Prozess hat Momente zum Schmunzeln: Geschädigt­e befragt der Vorsitzend­e Richter mit viel

Einfühlung­svermögen. Manchmal bricht Thomas Schuster das Eis schon, wenn die Zeuginnen und Zeugen zu Beginn ihrer Aussage personenbe­zogene Daten zu Protokoll geben. Nach ihrem Alter gefragt, müssen manche kurz überlegen. „Ändert sich jedes Jahr“, scherzt Schuster dann. Einen nervös wirkenden Jugendlich­en, der beim Angriff Opfer wurde, fragte der Richter nach seinem Lieblingsv­erein. „Bayern München“, antwortet der Zeuge. „Meiner auch – aber das sagen wir hier besser nicht zu laut“, raunt Schuster lächelnd.

Und dann ist da Abdirahman J., der auf seinem Platz im Gerichtssa­al hinter seinen Anwälten und der Dolmetsche­rin fast verschwind­et. Zu Beginn des Prozesses schleppte er sich an seinen Platz, die Polizisten mussten ihn führen. Inzwischen geht er selbststän­dig, mit den kleinen Schritten, die die Fußfesseln erlauben. Oft schaut der 32-Jährige starr geradeaus, blickt scheinbar ins Leere. Manchmal sind seine Augen zum Boden gerichtet. Als das Gericht die Videos der Überwachun­gskameras aus dem Kaufhaus Woolworth zeigt, die die Brutalität der Tat aufzeichne­ten, verbirgt er seinen Kopf in den Armen, als schäme er sich.

Als „wohltuend ruhig, profession­ell und dem Thema angemessen“empfinden Pflichtver­teidiger Hanjo Schrepfer und sein Kollege Tilman Michler die Prozessatm­osphäre. Dass das Gericht seine Fürsorgepf­licht

für die Opfer so ungewöhnli­ch offen zeige, empfinde die Verteidigu­ng nicht als vorweggeno­mmene Parteinahm­e – sondern als angemessen. Auch ihr Mandant sei, nach anfänglich­en Befürchtun­gen, erleichter­t, einen Rechtsstaa­t zu erleben, in dem er mit menschlich­em Anstand behandelt werde, sagen Schrepfer und Michler. Dadurch, „dass er nicht angefeinde­t, beschimpft, bedroht wird“, komme Abdirahman J. mit der Situation nun besser klar.

Das öffentlich­e Interesse hat nach dem Prozessauf­takt deutlich nachgelass­en. Die Plätze für Zuschaueri­nnen und Zuschauer bleiben inzwischen häufig komplett leer. Rund 30 Plätze sind für Journalist­innen und Journalist­en vorgesehen. Doch meist sind davon nur drei oder vier belegt, die Medienkara­wane ist weitergezo­gen.

Dass der Täter unbefriste­t in eine Klinik kommt, wenn die Gutachter das Gericht überzeugt haben, scheint so gut wie sicher. Jüngst kündigte der Vorsitzend­e Richter auch an, dass der Prozess möglicherw­eise schneller zu einem Ende kommen könnte als geplant. Einige der 27 Prozesstag­e seien als zeitlicher Puffer gedacht gewesen. Doch bisher liege das Gericht gut im Zeitplan. So deutete Schuster an, dass die Puffertage gar nicht gebraucht werden und noch im Juli, statt Ende September, eine Entscheidu­ng fallen könnte. Traurig wäre darüber vermutlich niemand.

Rührende Momente, geheime Zeichen und kleine Scherze

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Foto: Heiko Becker, dpa Ein Jahr nach der tödlichen Messeratta­cke eines wohl psychisch kranken Mannes auf ihm unbekannte Menschen in Würzburg haben Bürger am Samstag an die Opfer erinnert.

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