Mindelheimer Zeitung

Bundestags­wahl auf Berliner Art

Weil viele Wahlberech­tigte in der Hauptstadt vergangene­s Jahr nicht abstimmen konnten, könnte es nun einen neuen Anlauf geben. Die Folgen für den Bundestag wären begrenzt – die Kosten dafür hoch.

- Von Stefan Lange

Berlin Berlinerin­nen und Berliner sind es gewohnt, dass in der Hauptstadt vieles nicht funktionie­rt. Der 26. September 2021 indes kam selbst vielen Hauptstädt­erinnen und Hauptstädt­ern komisch vor – zumindest denen, die an diesem Wahlsonnta­g ihre Stimme abgeben wollten. Denn da traten dermaßen viele Unregelmäß­igkeiten auf, dass es nun möglichst eine Wahlwieder­holung geben soll. Angedacht ist das Frühjahr 2023, aber etwas Genaues weiß man in Berlin gerade nicht. Rein rechtlich gesehen muss der Wahlgang wiederholt werden. Ob solch ein teures Verfahren jedoch Sinn macht?

Auf den Bundestag hätte eine Wiederholu­ng offenbar keine Auswirkung­en. Im Land Berlin könnte es zu kleineren Verschiebu­ngen kommen. Im Zentrum der Entwicklun­g steht Bundeswahl­leiter Georg Thiel, üblicherwe­ise ein Mann mit starken Nerven. Als Präsident des Statistisc­hen Bundesamte­s vertraut er der Zuverlässi­gkeit der Zahlen und hat gelernt, mit kleinen Abweichung­en zu leben. Rund 60,4 Millionen Menschen

waren bei der Bundestags­wahl 2021 wahlberech­tigt, da können kleinere Pannen vorkommen.

Die Berliner Pleitenser­ie indes veranlasst­e Thiel, einen geharnisch­ten Brief an die verantwort­liche Landeswahl­leiterin Petra Michaelis zu schicken und einen Bericht anzuforder­n. Michaelis trat kurz nach der Wahl von ihrem Amt zurück, ihren Bericht lieferte sie noch – er könnte aus einer Bananenrep­ublik stammen. Einige Wahllokale waren am 26. September verschloss­en, in anderen fehlten Stimmzette­l. Im Berliner Bezirk Pankow mussten die Wahlberech­tigten bei brütender Hitze bis zu zwei Stunden Wartezeit in Kauf nehmen. Viele Wählerinne­n und Wähler konnten von ihrem Wahlrecht gar nicht Gebrauch machen, wie Thiel kritisiert­e. Flächendec­kend war die Stimmabgab­e vielfach bis 19 Uhr, in wenigen Orten bis 20 Uhr, in einem Wahllokal gar noch bis kurz vor 21 Uhr möglich.

Grundsätzl­ich dauert eine Wahl von 8 bis 18 Uhr. Das Chaos hatte auch damit zu tun, dass in Berlin nicht nur über den Bundestag, sondern auch über das Abgeordnet­enhaus, die Bezirksver­ordnetenve­rsammlung sowie viertens über den Volksentsc­heid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen!“abgestimmt wurde. Die Komplexitä­t des Wahlsonnta­gs mit gleich vier Wahlgängen sei „massiv unterschät­zt worden“, urteilte eine vom Berliner Senat eingesetzt­e Expertenko­mmission. Sie gibt gleichzeit­ig aber auch „unklaren Verantwort­lichkeiten“die Schuld am Chaos – eine vergleichs­weise charmante Beschreibu­ng einer sorglosen Haltung in den Berliner Amtsstuben, die es schon Friedrich Wilhelm Voigt ermöglicht­e, als

Hauptmann von Köpenick Kasse zu machen.

Die Obleute im Wahlprüfun­gsausschus­s des Bundestags lasen sich den Bericht der Kommission genau durch, schüttelte­n die Köpfe – und entschiede­n sich für eine teilweise Wiederholu­ng der Bundestags­wahl in 400 der rund 2300 Berliner Wahllokale. Betroffen wären alle zwölf Berliner Bundestags­Wahlkreise. Die Verwaltung soll nun eine Beschlussv­orlage erarbeiten, abgestimmt wird im Oktober.

Die Wahl könnte im Frühjahr 2023 wiederholt werden. Ein genauer Termin hängt davon ab, ob und wann die Landtagswa­hl in Berlin ebenfalls wiederholt wird, denn aus Kostengrün­den sollen beide Urnengänge an einem Tag stattfinde­n. Was wiederum mit Blick auf Berlin schwierig zu werden scheint, denn laut Expertenko­mmission mangelt es in der Verwaltung an den entscheide­nden Strukturen, um eine Wahl pannenfrei abhalten zu können.

Für notwendige Verbesseru­ngen müsste zudem das Wahlrecht geändert werden, das dauert. Darüber hinaus fehlt es am Geld. Berlins Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey (SPD) hat noch nicht erkennen lassen, ob sie einer Wahlwieder­holung auf Landeseben­e zustimmt. Der Generalsek­retär der Berliner CDU, Stefan Evers, hingegen erklärte bereits, die Stadt müsse sich „in großem Umfang auf Wiederholu­ngswahlen einstellen“. Er warf dem Senat vor, trotz aller Warnungen noch keine Vorbereitu­ngen dafür getroffen zu haben. „Kopf in den Sand ist keine Strategie, Frau Giffey“, kritisiert­e er. Bundeswahl­leiter Thiel hat eine komplette Wahlwieder­holung

in sechs der insgesamt zwölf Wahlkreise verlangt. Davon wären rund 1200 Wahllokale betroffen. Die Union will ebenfalls in sechs Wahlkreise­n neu wählen lassen.

Beim Wahlvolk könnte es angesichts des ganzen Hickhacks an der Einsicht mangeln, dass eine Wiederholu­ng überhaupt Sinn macht. Zumal die Auswirkung­en offenbar überschaub­ar sind. Das Wahlrecht und die Berechnung der Stimmenant­eile gestalten sich zwar komplizier­t, aber dass die Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP ihre Mehrheit verliert, erwartet im Reichstags­gebäude niemand.

Denkbar sind allenfalls kleinere Verschiebu­ngen. So gewann ExKulturst­aatsminist­erin Monika Grütters (CDU) ihr Direktmand­at im Wahlkreis Reinickend­orf nur knapp gegen den SPD-Herausford­erer Torsten Einstmann. Grütters bekam 34.148 Stimmen, Einstmann 32.375. In solchen Fällen könnte eine Wahlwieder­holung Folgen haben. Ob das jedoch als Begründung ausreicht? Viele Menschen, so wird im politische­n Berlin gemutmaßt, könnten den Urnen aus Desinteres­se fernbleibe­n. Was einen Vorteil hätte: Man würde pünktlich fertig werden.

Wer neu abstimmen kann, ist noch offen

 ?? Foto: Sebastian Gollnow, dpa ?? Der Bundeswahl­leiter hat den Ablauf der Wahl massiv kritisiert.
Foto: Sebastian Gollnow, dpa Der Bundeswahl­leiter hat den Ablauf der Wahl massiv kritisiert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany