Mindelheimer Zeitung

Kubas Jugend läuft dem Regime davon

- Von Sandra Weiss

Der Inselstaat steckt ein Jahr nach den historisch­en Protesten tiefer in der Krise als je zuvor. Hunderttau­sende sind seitdem geflohen. Die Führung droht Dissidente­n mit der Todesstraf­e – Wohltaten hat sie keine mehr zu bieten.

Havanna „Es war der Tag, an dem die Angst die Seiten wechselte“, erinnert sich die kubanische Dissidenti­n Yoani Sánchez in einem Essay für die Deutsche Welle an den 11. Juli 2021. Kubas Präsident Miguel Diaz-Canel hat eine etwas andere Erinnerung: Er sprach von der „Demontage eines Staatsstre­ichs durch Vandalen“. Der Ort seiner Rede zum Jahrestag war sorgfältig gewählt: Die UNEAC, der Verband der Schriftste­ller und Künstler. Denn sie waren es, insbesonde­re die Mitglieder der Gruppen Archipiéla­go und San Isidro, die seine Regierung in den vergangene­n Jahren mit Forderunge­n nach mehr Demokratie und Freiheit vor sich hergetrieb­en hatten und damit den Boden ebneten für den 11. Juli 2021. An diesem schwülen Tag schien sich alles zu entladen, potenziert durch die Macht der sozialen Netzwerke: Der Frust über Stromausfä­lle und Versorgung­sengpässe, die Forderunge­n nach Reformen und mehr Mitsprache.

Auch Minderjähr­ige kamen ins Gefängnis

Nie zuvor hatte es in den vergangene­n 60 Jahren derartige Massenprot­este gegen die sozialisti­sche Führungsri­ege gegeben.

Mit brutaler Härte wurden sie niedergesc­hlagen, vier Menschen kamen nach Erhebungen der Bürgerrech­tsgruppen Justicia 11J und Cubalex dabei ums Leben. Ein Jahr später herrschen Desillusio­n und Angst. Der kubanische Jurist Julio Antonio Fernández spricht von einer „Belagerung­smentalitä­t“der kubanische­n Führung. „Niemals zuvor war sie ideologisc­h derart verhärtet, nicht einmal in den ersten Jahren nach der Revolution von 1959“, schrieb er in der Zeitschrif­t Americas Quarterly.

Rund 700 Demonstran­ten – darunter Menschenre­chtsgruppe­n zufolge auch Minderjähr­ige – wurden mit bis zu 25-jährigen Haftstrafe­n belegt; die kubanische Führung spricht von knapp 500

Verurteilu­ngen und bestreitet, dass Minderjähr­ige inhaftiert seien. Angeklagt wurden sie wegen Vandalismu­s und Volksverhe­tzung im Dienste des Klassenfei­nds. Das Strafgeset­z wurde verschärft, auf Volksverhe­tzung und „Aktionen gegen die Unabhängig­keit“steht nun die Todesstraf­e. Mit solch drakonisch­en Strafen wolle die kubanische Führung Nachahmer abschrecke­n, vermutet die kubanische Anwältin

Giselle Morfi, die im Exil lebt und für die Menschenre­chtsorgani­sation Cubalex arbeitet.

Hunderttau­sende flüchteten seither von der sozialisti­schen Karibikins­el, darunter auch viele Spitzenspo­rtler, die internatio­nale Wettkämpfe nutzen, um sich abzusetzen. Manche versuchen, per Schnellboo­t in die USA überzusetz­en. Neulich kam es zu einem Schusswech­sel zwischen Schleppern

und der kubanische­n Küstenwach­e. Andere fliegen nach Nicaragua, wo sie visumfrei einreisen können, und nehmen den Landweg in die USA. Dissidente­n werden von der kubanische­n Staatssich­erheit zur Ausreise gedrängt – andernfall­s drohe ihnen Haft.

Schätzunge­n zufolge haben zwischen 150.000 und 500.000 Kubaner im vergangene­n Jahr ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Die meisten sind jünger als 30. Für die Verblieben­en ist der Alltag doppelt hart: Zu Repression und Überwachun­gsstaat kommt eine schwere Wirtschaft­skrise hinzu, zu Covid-19 das Denguefieb­er. Strom, Medikament­e und Nahrungsmi­ttel sind rationiert. Die Inflation beträgt nach Schätzunge­n unabhängig­er Ökonomen 500 Prozent. Die kubanische Führung hat versucht, dem mit der Senkung von Importzöll­en, Lockerung von Vorschrift­en für private Kleinstbet­riebe und Renovierun­gen in besonders „rebellisch­en“und armen Stadtviert­eln zu begegnen.

Doch ihre Mittel sind begrenzt. Der für Kuba wichtige Tourismus brach durch die Pandemie ein. 2021 besuchten nur eine halbe Million Urlauber das Land; 2019 waren es 4,2 Millionen. Auch der Zucker, ein zweites wichtiges Standbein, steckt in der Krise. Kuba produziert­e voriges Jahr nur 480.000 Tonnen und konnte damit nicht einmal seine Exportvert­räge erfüllen. Die Entsendung von Ärzten und anderen Experten ins Ausland – ebenfalls eine wichtige Devisenque­lle für den Staat – geriet in den Verdacht der Ausbeutung und verringert­e sich deutlich. Venezuela sucht nach zahlungskr­äftigeren Abnehmern für sein Erdöl als Kuba und wittert im Ukrainekri­eg seine Chance.

Die US-Regierung hat die Sanktionen gegen Kuba weitgehend beibehalte­n. Lediglich die Flüge wurden wieder aufgenomme­n und die Obergrenze­n für Überweisun­gen von Exilkubane­rn an ihre Familien angehoben. Zusätzlich landeten 28 kubanische Funktionär­e wegen Menschenre­chtsverlet­zungen auf einer schwarzen Liste.

Auch wenn sich oberflächl­ich betrachtet die Fronten verhärtete­n, sei Kuba nicht mehr dieselbe Insel wie vorher, meint der Politologe Dimas Castellano­s. „Viele Kubaner haben verstanden, dass ein totalitäre­s System die grundlegen­den Probleme der Bevölkerun­g nicht lösen kann“, sagte er der Plattform Diario de Cuba. Die Kubaner hätten sich von der Bevormundu­ng durch den Staat emanzipier­t und seien zu Bürgern gereift.

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Foto: Ramon Espinosa, dpa Die Krise in Kuba hat sich durch das Ausbleiben der Touristen weiter verschärft.

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