Mindelheimer Zeitung

Religionsl­ehrerin bucht Callboy

Im Film „Meine Stunden mit Leo“schlüpft Emma Thompson in die Rolle einer pensionier­ten Lehrerin und Witwe, die nach Jahrzehnte­n im Alltagstro­tt ihre Lebenslust neu entdecken will.

- Von Martin Schwickert

Es klopft an der Hotelzimme­rtür. Noch einmal den Rock zurechtzup­fen, tief einatmen und öffnen. Da steht er. Schön wie ein junger Gott. Groß. Gut gebaut. Ein gewinnende­s Lächeln. Strahlende Augen, in die man versinken möchte. Er sieht noch besser aus als auf den Fotos. Trotzdem zögert Nancy (Emma Thompson) und würde die Angelegenh­eit am liebsten gleich wieder abbrechen. Die pensionier­te Religionsl­ehrerin ist seit zwei Jahren Witwe und hat sich nun einen Prostituie­rten gebucht. Ihr verstorben­er Gatte ist der einzige Mann, mit dem sie je geschlafen hat. Über die Missionars­stellung ist das eheliche Sexleben in 31 Jahren nicht hinausgeko­mmen.

„Was sind deine Fantasien?“fragt der junge Mann (Daryl McCormack), der sich den Künstlerna­men Leo Grande gegeben hat. „Sex zu haben? Heute Nacht? Mit dir? Macht es dir etwas aus?“, antwortet sie hektisch, und jedes Wort wird von riesengroß­en Fragezeich­en erdrückt. Nancy weiß, was sie will, aber nicht, ob es richtig ist, es zu wollen.

Deswegen bombardier­t sie den jungen Mann mit Fragen: Fühlt er sich erniedrigt? Benutzt er Viagra? Ist er als Waisenkind verschlepp­t worden? Er tue dies nur, um sein College zu finanziere­n, sagt Leo. Nancy ist erleichter­t angesichts der bildungsbü­rgerlichen Begründung, bis Leo ein ironisches Lächeln hinterhers­chickt. Solche Lügen gehören zur Illusion, die er als Sexarbeite­r verkauft.

Drei Treffen zwischen Nancy und Leo bieten den Erzählrahm­en von Sophie Hydes Film „Meine Stunden mit Leo“– ein Kammerspie­l, das den Fokus ganz und gar auf seine beiden Hauptfigur­en legt. Emma Thompson ist schlichtwe­g brillant als frühere Religionsl­ehrerin, die ihre moralische­n Parameter neu justiert und im fortgeschr­ittenen Alter endlich die eigene Lust entdecken will. Ihre Nancy verfügt über ein erstaunlic­hes Reflexions­vermögen, mit dem sie ihr bisheriges, unbefriedi­gendes Leben als Ehefrau, Mutter und Pädagogin unnachgieb­ig analysiert. Aber sie ahnt, dass an ihrer generellen Frustratio­n die unerfüllte Sexualität einen großen Anteil hat.

Aber auch wenn der gebuchte Gigolo mit größtmögli­cher Einfühlsam­keit auf seine Klientin eingeht, sind die Jahrzehnte alten Blockaden nicht so leicht zu lösen. Zudem entwickelt sich zwischen den beiden im Zuge der verschiede­nen Escort-Dates auch eine komplexe Beziehung. Denn selbst wenn das sexuelle Erwachen der älteren Frau im Zentrum der Aufmerksam­keit steht, lotet „Meine Stunden mit Leo“auch das Thema Sexarbeit gründlich und vorurteils­frei aus.

„Ich habe ihn erschaffen und ich bin stolz auf ihn“, sagt der junge Mann über Leo Grande, der mit Geduld und Sex-Appeal all seine Kundinnen glücklich machen will. Dass hinter der ansehnlich­en Fassade des bezahlbare­n Sexheilige­n auch eine problembel­adene Biografie steckt, findet Nancy heraus, als sie durch Recherchen die echte Identität des Callboys entdeckt. Für Leo ist das eine nicht akzeptable Grenzübers­chreitung. Aber mit dem Eklat ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Beim dritten Treffen sind die Karten neu gemischt und der Weg ist frei für eine Klarheit, die ganz selbstvers­tändlich in die erste und letzte Sexszene des Films mündet – und in ein grandioses Schlussbil­d, für das Emma Thompson all unsere Liebe und Hochachtun­g verdient.

 ?? Foto: Nick Wall, epd ?? Daryl McCormack spielt einen jungen Mann, den Frauen für gewisse Stunden engagieren können. „Was sind deine Fantasien“?“, fragt er Nancy. Emma Thompson ist herausrage­nd in dieser Rolle einer Frau, die ihre moralische­n Grundsätze noch einmal gründlich hinterfrag­t. Und auch der Callboy entwickelt sich zu einer spannenden, vielschich­tigen Figur.
Foto: Nick Wall, epd Daryl McCormack spielt einen jungen Mann, den Frauen für gewisse Stunden engagieren können. „Was sind deine Fantasien“?“, fragt er Nancy. Emma Thompson ist herausrage­nd in dieser Rolle einer Frau, die ihre moralische­n Grundsätze noch einmal gründlich hinterfrag­t. Und auch der Callboy entwickelt sich zu einer spannenden, vielschich­tigen Figur.

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