Religionslehrerin bucht Callboy
Im Film „Meine Stunden mit Leo“schlüpft Emma Thompson in die Rolle einer pensionierten Lehrerin und Witwe, die nach Jahrzehnten im Alltagstrott ihre Lebenslust neu entdecken will.
Es klopft an der Hotelzimmertür. Noch einmal den Rock zurechtzupfen, tief einatmen und öffnen. Da steht er. Schön wie ein junger Gott. Groß. Gut gebaut. Ein gewinnendes Lächeln. Strahlende Augen, in die man versinken möchte. Er sieht noch besser aus als auf den Fotos. Trotzdem zögert Nancy (Emma Thompson) und würde die Angelegenheit am liebsten gleich wieder abbrechen. Die pensionierte Religionslehrerin ist seit zwei Jahren Witwe und hat sich nun einen Prostituierten gebucht. Ihr verstorbener Gatte ist der einzige Mann, mit dem sie je geschlafen hat. Über die Missionarsstellung ist das eheliche Sexleben in 31 Jahren nicht hinausgekommen.
„Was sind deine Fantasien?“fragt der junge Mann (Daryl McCormack), der sich den Künstlernamen Leo Grande gegeben hat. „Sex zu haben? Heute Nacht? Mit dir? Macht es dir etwas aus?“, antwortet sie hektisch, und jedes Wort wird von riesengroßen Fragezeichen erdrückt. Nancy weiß, was sie will, aber nicht, ob es richtig ist, es zu wollen.
Deswegen bombardiert sie den jungen Mann mit Fragen: Fühlt er sich erniedrigt? Benutzt er Viagra? Ist er als Waisenkind verschleppt worden? Er tue dies nur, um sein College zu finanzieren, sagt Leo. Nancy ist erleichtert angesichts der bildungsbürgerlichen Begründung, bis Leo ein ironisches Lächeln hinterherschickt. Solche Lügen gehören zur Illusion, die er als Sexarbeiter verkauft.
Drei Treffen zwischen Nancy und Leo bieten den Erzählrahmen von Sophie Hydes Film „Meine Stunden mit Leo“– ein Kammerspiel, das den Fokus ganz und gar auf seine beiden Hauptfiguren legt. Emma Thompson ist schlichtweg brillant als frühere Religionslehrerin, die ihre moralischen Parameter neu justiert und im fortgeschrittenen Alter endlich die eigene Lust entdecken will. Ihre Nancy verfügt über ein erstaunliches Reflexionsvermögen, mit dem sie ihr bisheriges, unbefriedigendes Leben als Ehefrau, Mutter und Pädagogin unnachgiebig analysiert. Aber sie ahnt, dass an ihrer generellen Frustration die unerfüllte Sexualität einen großen Anteil hat.
Aber auch wenn der gebuchte Gigolo mit größtmöglicher Einfühlsamkeit auf seine Klientin eingeht, sind die Jahrzehnte alten Blockaden nicht so leicht zu lösen. Zudem entwickelt sich zwischen den beiden im Zuge der verschiedenen Escort-Dates auch eine komplexe Beziehung. Denn selbst wenn das sexuelle Erwachen der älteren Frau im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, lotet „Meine Stunden mit Leo“auch das Thema Sexarbeit gründlich und vorurteilsfrei aus.
„Ich habe ihn erschaffen und ich bin stolz auf ihn“, sagt der junge Mann über Leo Grande, der mit Geduld und Sex-Appeal all seine Kundinnen glücklich machen will. Dass hinter der ansehnlichen Fassade des bezahlbaren Sexheiligen auch eine problembeladene Biografie steckt, findet Nancy heraus, als sie durch Recherchen die echte Identität des Callboys entdeckt. Für Leo ist das eine nicht akzeptable Grenzüberschreitung. Aber mit dem Eklat ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Beim dritten Treffen sind die Karten neu gemischt und der Weg ist frei für eine Klarheit, die ganz selbstverständlich in die erste und letzte Sexszene des Films mündet – und in ein grandioses Schlussbild, für das Emma Thompson all unsere Liebe und Hochachtung verdient.