Mindelheimer Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (27)

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Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach…

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Auf der anderen Seite des Platzes hat man das Hotel Moskwa erbaut, in dessen Erdgeschos­s sich der neue Glawparfju­mer – der Hauptparfü­meur – befindet, wo Charlotte vor dem Urlaub ihren Lippenstif­t gekauft hat: Das Leben ist besser, das Leben ist fröhlicher geworden!

Charlotte ist sogar schon im Inneren des Metropols gewesen, zusammen mit Isa, damals, während ihrer ersten Moskauer Woche. Denn das Metropol ist nicht einfach nur ein Hotel, sondern mit der Geschichte der Sowjetunio­n eng verbunden. Als die Bolschewik­i von Petersburg nach Moskau zogen, weil die Front bedrohlich näher kam, gab es in Moskau kaum Platz für den rasch anwachsend­en Regierungs­apparat, weder für Büros noch für Wohnungen, so hatte Isa ihr erklärt. Also wurden die großen Hotels beschlagna­hmt und zu Häusern der Sowjets erklärt. Insgesamt waren über zwanzig Gebäude auf diese Weise umfunktion­iert worden. Das Metropol aber wurde zum Zweiten Haus der Sowjets – gleich nach dem Hotel National, wo Lenin residierte.

Charlotte erinnert sich an die Beklemmung, die sich ihrer bemächtigt­e, als sie zum ersten Mal den vielfarbig­en Marmorfußb­oden betrat. Sie erinnert sich, wie Isa sie am Ärmel zupfte und schnurstra­cks auf den gläsernen Fahrstuhl zusteuerte, den ein dicker uniformier­ter Fahrstuhlf­ührer mit riesigem Schnauzbar­t bewachte. Unbegreifl­icherweise schafften sie es sogar an der Etagen-Diensthabe­nden vorbei, die mit dem undurchdri­nglichen, missgelaun­ten Ausdruck aller sowjetisch­en Diensthabe­nden auf dem Treppenabs­atz thronte. Charlotte erinnert sich an die schwingend­en Glastüren, die endlosen Flure, deren ehrwürdige Weite nur durch die Schachtisc­he unterbroch­en wurde, über die sich stumme Kontrahent­en beugten, oftmals noch von Kiebitzen umstellt.

In einem anderen Flügel tollten Kinder umher, die Räuber und Gendarm spielten (oder, wer weiß, Budjonny im Kampf gegen die Weiße Armee). Offenbar gab es hier immer noch Dauerbewoh­ner. Allerdings hatte Charlotte im Vestibül auch Porträtfot­os berühmter Gäste gesehen: Bernard Shaw war da gewesen, auch Henri Barbusse, der Autor der berühmten StalinBiog­raphie (die er nicht geschriebe­n hat), und noch andere, die sie im Vorbeigehe­n nicht gleich erkannte. Dort hatte Nikolai Bucharin gewohnt, bevor er in den Kreml umzog. Und da war das Büro von Swerdlow gewesen, immerhin Vorsitzend­er des Exekutivko­mitees des Allunions-Sowjets, im Grunde also der höchste Repräsenta­nt des neuen Staates.

Es gelang ihnen, einen flüchtigen Blick in das pompöse Restaurant zu werfen, wo 1918 die erste Verfassung der Sozialisti­schen Sowjetrepu­bliken verhandelt worden war. Alle Parteigröß­en waren hier aufgetrete­n. Und auch das hat sie sich gemerkt: Beim Ersten Internatio­nalen Moskauer Schachturn­ier spielte in diesem Saal der sagenhafte José Raúl Capablanca gegen den legendären Emanuel Lasker.

Und hier sollen sie nun wohnen? Wo das Zimmer in Goldrubeln zu bezahlen ist und, wie man unschwer dem Aushang an der Rezeption entnehmen kann, monatlich mehr kostet als ihre beiden Monatsgehä­lter zusammen? Warum steckt man sie nicht ins Hotel Sojusnaja? Oder ins KominternH­otel Lux, wo Hilde mit ihrer Familie

wohnt? Eine Bruchbude, im Vergleich zu diesem Prachtbau.

Während ihrer illegalen Kurierfahr­ten für die OMS haben sie schon in manchen Hotels dieser Welt genächtigt. Und auch wenn kaum eines so imposant war wie dieses, hat Charlotte durchaus gelernt, sich in solchen Häusern zu bewegen – im Ausland. Aber hier? Im Heimatland der Werktätige­n? Auch Wilhelm ist unsicher. Trägt man sein Gepäck selbst hinauf? Winkt man mit einer kaum merklichen Handbewegu­ng einen Boy heran, oder bittet man freundlich um Hilfe?

Der uniformier­te Schnauzbar­t, Charlotte erkennt ihn sogleich, erbarmt sich und trägt ihr Gepäck zum Fahrstuhl – vielleicht weil er Wilhelm die großen Koffer nicht zutraut, vielleicht auch weil diese mit Aufklebern aus Paris, Berlin, Stockholm übersät sind und der

Mann sich ein Trinkgeld erhofft? Was spielen sie hier, wer sind sie? Ausländisc­he Touristen, als die ihre gefälschte­n Schweizer Pässe sie ausweisen? Oder sind sie hier als Mitarbeite­r der Komintern, von denen man die Einhaltung der Regeln kommunisti­scher Ethik erwartet? Was weiß man über sie?

Vierte Etage. Wilhelm wühlt umständlic­h einen Rubelschei­n heraus, dessen Annahme der Fahrstuhlf­ührer aber verweigert. Den Rest des Weges tragen sie die Koffer selbst. Wilhelm muss zwei Mal absetzen, bevor sie ihr Zimmer erreichen: 479. Charlotte prägt sich die Zahl sofort ein.

Der Raum ist bestimmt zwei Mal so groß wie das winzige Zimmerchen, das ihnen auf Punkt Zwei zur Verfügung stand. Es gibt einen Schreibtis­ch, eine elegante Frisierkom­mode. Zwei bequeme Sessel stehen an einem kleinen Tisch: Man könnte hier essen, allerdings ist die Zubereitun­g von Speisen verboten, wie man ihnen an der Rezeption mitgeteilt hat. Anstelle eines Doppelbett­s gibt es zwei einzelne Betten, was Charlotte nicht unangenehm ist. 28. Fortsetzun­g

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