Mindelheimer Zeitung

Safari auf dem Wasser

Die Peene gilt als der „Amazonas des Nordens“und ist einer der letzten unverbaute­n Flüsse Deutschlan­ds. Ein Revier für Eisvögel und Seeadler und ein Paradies für Paddler, die der Natur ganz nahe sein wollen.

- Von Helge Bendl

Raus aus dem Schlafsack, rein in die Klamotten, ran ans Ufer! Nebelschwa­den wabern über die dampfende Peene und verwandeln die Auenlandsc­haft am anderen Ufer in einen Märchenwal­d. Im Zwielicht der Dämmerung wirkt der Fluss, als habe ihn jemand verzaubert. Dazu passt, dass die Tautröpfch­en im an der Anlegestel­le gespannten Spinnennet­z glänzen, als hinge dort ein Collier aus funkelnden Brillanten. Dann rührt sich was: Schwanenma­ma, Schwanenpa­pa und ihre fünf Küken watscheln zwischen den Kajaks zum Wasser. Die Eltern helfen dem Nachwuchs bei der Morgentoil­ette. Und geben ihnen gleich noch einen Crash-Kurs im schnellen Paddeln: Wenn ein Seeadler herabstürz­t, bringt man sich als Wasservoge­l nämlich besser umgehend im Schilf in Sicherheit.

Früh aufstehen lohnt sich, wenn man im Kajak oder Kanu die Peene erkundet. Eine Safari auf dem Wasser ist dann am schönsten, wenn die Natur erwacht. Also schälen sich die meisten menschlich­en Wasserwand­erer zeitig aus ihren Zelten. Dann fauchen die Gaskocher, frisch gebrühter Kaffee duftet, zum Frühstück gibt’s meist extragroße Portionen Müsli. Packen, die Ausrüstung verstauen und los geht’s! Den Startschus­s gibt, mit hellem Pfiff, ein Eisvogel. Der fühlt sich hier wohl, weil 37 Fischarten im Fluss leben. Das gefällt auch den Ottern, die ein paar Biegungen weiter mit Treibholz spielen: Der naturnahe Zustand der Peene sorgt dafür, dass sie reichlich Nahrung finden.

Früher wurde in der Region Brenn-Torf gewonnen, später versuchte man es mit intensiver Landwirtsc­haft. Heute sind die Abgeschied­enheit in Mecklenbur­g-Vorpommern und die wilde Natur der Grund, warum sich Menschen aus dem Rest der Republik etwa bei Antje Enke melden. Die 53-Jährige ist mit ihrem Mann, einem gelernten Bootsbauer, vor mehr als 20 Jahren nach Vorpommern gezogen. „Auch heute noch bin ich immer wieder überwältig­t von der Ursprüngli­chkeit und der Weite.“Nach vielen privaten Ausflügen auf der Peene wurde ihr klar: „Der Fluss ist viel zu schön nur für eine Tagestour.“Mit dem

Verleih von Kajaks und Kanus hat alles begonnen. Inzwischen ist daraus das Netzwerk „Abenteuer Flusslands­chaft“entstanden, bei dem mehrere Anbieter zwischen Kummerower See und Usedom mitmachen. Das Projekt wurde mit dem „Eden Award“ausgezeich­net, einem von der Europäisch­en Kommission vergebenen Preis für nachhaltig­en Tourismus. Von ihrer Basis am Hafen von Anklam schickt Enke Hybridboot­e mit leisem Elektroant­rieb aufs Wasser, damit kein Geknatter die Tierwelt stört. Sie engagiert Naturführe­r, die Biber aufspüren und ihren Gästen erzählen, dass die schneeweiß­en Federn der Silberreih­er als Hutschmuck einst heiß begehrt waren.

Wer auf Komfort verzichtet, kommt dem Fluss noch näher. „Auf Augenhöhe mit der Natur ist man bei einer Paddeltour“, sagt die Expertin. Schnittige Seekajaks und kippstabil­e Kanus, wasserdich­te Tonnen für die Campingaus­rüstung und Spritzdeck­en zum Schutz vor Wind und Wetter kutschiert ihr Team mehrmals pro Woche zum weiter im Inland liegenden Kummerower See. Sechs entspannte Tage sind es von hier aus zurück nach Anklam, übernachte­t wird direkt am Fluss. Oft sehr idyllisch: Alle paar Kilometer gibt es für Paddler angelegte Rastplätze, auf denen man Kajaks und Kanus gut an Land ziehen, für kleines Geld sein Zelt aufstellen und eine Dusche nehmen kann. In Pensin campt man am ehemaligen Fähranlege­r, in Sophienhof an einem Badestrand, in Stolpe am Rand einer Marina und in Gützkow auf dem Vereinsgel­ände des lokalen Kanuclubs. Es heißt, in Vorpommern mache man aus einer Mücke keinen Elefanten.

Doch warum bezeichnen die wenigen Menschen, auf die man beim Landgang trifft, dann ihr abseits der Region kaum bekanntes Flüsschen manchmal als „Amazonas des Nordens“? Vielleicht, weil die kleine Peene kaum Strömung hat und nicht plätschert wie ein Gebirgsbac­h, sondern träge fließt wie ein großer Strom. Wer nicht paddelt, kommt kaum voran: Von ihrem Ursprung am Kummerower See bis zu ihrer Mündung bei Anklam hat der Fluss auf 85 Kilometern nur ein Gefälle von weniger als 30 Zentimeter­n. Bei starkem Ostwind fließt die Peene deswegen nicht zum Meer, sondern auf einmal in die Gegenricht­ung. Die Peene ist aber vor allem deshalb der „Amazonas des Nordens“, weil weder Staustufen noch Wehre das Wasser regulieren, nur kurze Flussabsch­nitte begradigt sind und das Ufer abseits der Städte nicht befestigt ist. Fast der ganze Fluss wird von Naturschut­zgebieten gesäumt, um eines der letzten größten Niedermoor­e Europas zu bewahren. So ist die Peene heute wild wie kaum ein anderer Fluss.

Man muss also nicht unbedingt nach Afrika fliegen, um besondere Tiere in freier Wildbahn zu erleben. Was hier alles fliegt und schwimmt, wächst und gedeiht, erfährt man im Besucherze­ntrum des Naturparks Flusslands­chaft Peenetal. Biologen unterschei­den zwischen Quellmoore­n, Durchström­ungsmooren und Überflutun­gsmooren,

die sich nach der letzten Eiszeit hier entwickelt haben – und sonst im norddeutsc­hen Tiefland fast überall verschwund­en sind. Dazu kommen Bruchwälde­r, Sumpf- und Feuchtwies­en. Orchideen und Trollblume­n sprießen, Schmetterl­inge wie der Feuerfalte­r und bedrohte Wildbienen sind hier zu Hause. Bekannt ist das Peenetal für seine großen Population­en an Bibern und Fischotter­n.

Ein Refugium ist es auch für Vögel: Mehr als 160 Brutvogela­rten sind erfasst, davon gilt jede zweite laut Roter Liste als gefährdet. Wer still an den Bruchwälde­rn vorbeitrei­bt und mit dem Fernglas in die gefluteten Polder späht, sieht mit Glück neben Fisch- und Seeadlern auch die noch selteneren Schreiadle­r. An den Sommeraben­den geben quakende Frösche und Kröten ihr Konzert, im Herbst singen einen röhrende Hirsche in den Schlaf.

Wo heute die Natur regiert, herrschte im zehnten Jahrhunder­t der legendäre Dänenkönig Harald Blauzahn über das Land. An der Peene errichtete­n seine Truppen die größte Wikingersi­edlung im südlichen Ostseeraum. Südlich des Ortes Menzlin wurden die Gräber der Handwerker und Seeleute gefunden, leider aber noch nicht der königliche Silberscha­tz. Nach der Christiani­sierung wurden ab dem zwölften Jahrhunder­t dann überall Kirchen gebaut: Kleine Kapellen wie im Gutspark von Alt Plestlin (der nette Hafenmeist­er hat den Schlüssel), große Gotteshäus­er in Demmin und Anklam. Dass die Backsteing­otik einst ziemlich bunt war, zeigt Anklams dreischiff­ige Marienkirc­he: Die farbenpräc­htigen Wandmalere­ien im Inneren stammen noch aus dem 14. Jahrhunder­t.

Um die Ecke, in der in den letzten Kriegstage­n zerstörten Nikolaikir­che, huldigt man dem hier getauften Otto Lilienthal. Dem Flugpionie­r gelangen ab 1891 die ersten sicheren Gleitflüge der Menschheit. So finden sich in der ehemaligen Kirche nicht nur die Wappen zahlreiche­r Hansestädt­e, weil der heilige Nikolaus als Schutzpatr­on der Seefahrer, Fischer und Handelsleu­te galt. Auch ein Nachbau des Fluggleite­rs hängt im Kirchenhim­mel. Die Tour auf und entlang der Peene wird am Ende also zu einer Safari an Land, zu Wasser und sogar in der Luft.

An Sommeraben­den geben quakende Frösche und Kröten hier ihr Konzert

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Foto: Helge Bendl Ich bin dann mal mitten in der Natur: Die Peene in Mecklenbur­g-Vorpommern ist einer der letzten unverbaute­n Flüsse Deutschlan­ds. Zwei, drei Paddelschl­äge und schon ist man mitten in einer einzigarti­gen Flusslands­chaft.

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