„Die Menschen suchen neue Orientierung“
Der Historiker Markwart Herzog erklärt, warum er Fußball als neue Diesseitsreligion sieht.
Irsee Ob Bayern München oder DFB – Dr. Markwart Herzog hat schon einige Leute ins Schwitzen gebracht. Denn aufgrund der Forschungen des Historikers und Religionsphilosophen musste etwa der Rekordmeister sein Selbstbild aus der Zeit des Nationalsozialismus revidieren. Der DFB wiederum könnte seine Sicht auf die Anfänge des Fußballs überarbeiten, als in Deutschland nämlich oftmals Rugby statt Fußball gespielt wurde. Jetzt hat der Direktor der Schwabenakademie in Irsee ein neues Thema: Fußball als Weltreligion (siehe Artikel oben).
Herr Herzog, Fußball soll nach Ihrer Auffassung keine Ersatzreligion oder Religionsersatz, sondern eine Schnittmenge zwischen populärer und traditioneller Religion sein?
Markwart Herzog: In der Tat ist Fußball keine Ersatzreligion, die von „echter“Religion abgefallen wäre. Er ist auch kein Religionsersatz, vergleichbar etwa mit der Sparte der Ersatzmittel während der Versorgungsnot im Ersten Weltkrieg. Vielmehr ist der in Vereinen und Verbänden organisierte Fußball selbst eine populäre Weltreligion im 21. Jahrhundert.
Was verstehen Sie unter einer populären Religion?
Herzog: Ich orientiere mich an dem Soziologen Hubert Knoblauch. Er bezieht sich mit dem Begriff „populäre Religion“auf gesellschaftliche Phänomene wie die Verehrung von charismatischen Filmschauspielern, Künstlern, Musikern oder Politikern. In diesem Sinn ist Fußball ebenfalls eine populäre Religion, die Schnittmengen zwischen populärer Kultur und traditioneller Religion bildet. Dafür brauchen Sie keinen transzendenten Gott. Fußball ist vielmehr eine von vielen Diesseitsreligionen. Er verzeichnet eine steigende Nachfrage, einen rasant wachsenden Markt und große Resonanz in den Massenmedien.
Traditionelle Religion spielt in unseren Breitengraden immer weniger eine Rolle – sind deshalb populäre Religionen folgerichtig?
Herzog: Nicht die Religion steckt in der Krise, sondern die Kirchen. In Westeuropa verliert das Christentum an Bedeutung, die konfessionellen Milieus trocknen aus. Aber der Hunger nach Spiritualität, nach Gemeinschaft und Lebenssinn bleibt. Die Menschen suchen neue Orientierung – und finden sie im Fußball, den der Theologe Hans-Ulrich Probst als „gelebte Religion“beschreibt.
Ist eine Fußballreligion nicht nur ein Aufbäumen gegen die Moderne – gleich fundamentalistischen Strömungen wie Evangelikale oder Taliban? Onlineblasen mit wenig Bezug zur Realität scheinen doch eher das Zukunftsmodell zu sein?
Herzog: In der Weltreligion Fußball tummeln sich tatsächlich sektiererische Gruppen wie die in antikapitalistischen Milieus vernetzten Ultras. Sie bekämpfen die sportliche Moderne, zu der Kommerzialisierung, Professionalisierung und Medialisierung gehören. Für sie war Fußball früher angeblich besser, authentischer, ehrlicher, vor allem männlicher. Dem halte ich entgegen, dass erst der Kommerz das Beste aus diesem Spiel herausholt. Deshalb gehört die Zukunft jenen Fans, die die Dynamik und Logik des Spitzensports bejahen, die zum Beispiel die Trikots der bestens bezahlten Spieler kaufen, die sie verehren.
Was ist die Konsequenz aus ihrer These – wohin soll diese Kontingenzbewältigung führen?
Herzog: Von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus finden die Anhänger der Fußballklubs eine Beheimatung, die sie trägt. Sie können ihr ganzes Leben anhand der Erinnerung an Fußballereignisse ausbuchstabieren. Der Theologe Wolfhart Pannenberg hat „Gott“als „alles bestimmende Wirklichkeit“definiert. Für viele Fans ist der eigene Verein mit seinen Stars und Idolen und mit seiner Geschichte die ihr Leben absolut bestimmende Wirklichkeit.
Kann Fußball für das praktische Zusammenleben der Fans, für die er ja sinnstiftend ist, und der „Normalen“sinnvoll sein?
Herzog: Ebenso wie andere Religionen pflegt die Fußballreligion eigene Rituale etwa des Heiligenkultes oder der Reliquienverehrung. Mit dem FC Schalke 04 können Sie auf Wallfahrt zu wichtigen Stätten der Vereinsgeschichte gehen oder sich in Krisen von einer Schalke-Seelsorge helfen lassen. Und nicht zuletzt trifft Schalke mit einem eigenen Fan-Friedhof Vorsorge für die Zeit nach dem Tod. Was auch immer Sie mit den „Normalen“meinen: Hilfe und Trost, Sinn und Orientierung finden Sie sowohl im Fußball als auch in den Kirchen.