Mindelheimer Zeitung

Die vielen Seiten des Theo Waigel

5000 Bücher im Regal: Zu Besuch bei einem Lesemensch­en und die besten Neuerschei­nungen des Frühjahrs.

- Grimms Märchen, große Prachtausg­abe. Von Stefanie Wirsching (Text) und Daniel Biskup (Fotos)

Wie viele Leseleben haben so begonnen? Mit Dornrösche­n, mit Schneewitt­chen, mit dem Froschköni­g? Theo Waigel sitzt in der Küche seines Geburtshau­ses in Oberrohr bei Ursberg. 1932 wurde es gebaut, 1939 wurde er geboren, 1946 kamen Grimms Märchen hier an: als einziges Buch im Gepäck einer Lehrerfami­lie aus dem Egerland, die bei Waigels zwei Zimmer bekamen. Der Mann brachte dem kleinen Theo ein bisschen Geige bei, die Frau las ihm vor, als sie fünf Jahre später wieder gingen, schenkten sie ihm das Buch. Er hat es noch immer, wird es einem später zeigen, der grünblaue Einband fleckig und darauf das Rotkäppche­n, von dem aber nur ein bisschen blond und rot geblieben ist und ein paar Umrisse. Einmal hat er es zum Buchbinder gebracht, damit das Buch, das ihn zum Leser machte, nicht zerfällt. Was Büchermens­chen eben so tun.

Es sind knapp 5000 Bände, die sich im Leseleben von Theo Waigel angesammel­t haben. Sie stehen an zwei Orten. Etwa 4300 in Oberrohr und etwa 700 in Seeg im Allgäu, wo Theo Waigel mit seiner Frau Irene Epple-Waigel lebt. Er weiß eigentlich fast von jedem Buch, wo es steht. In welchem Haus, in welchem Zimmer, in welchem Regal, an welcher Stelle. Wenn er ein Buch nicht gleich findet, sagt Theo Waigel, macht ihn das unruhig.

5000 Bücher. Theo Waigel war von 1989 bis 1998 Bundesfina­nzminister, von 1988 bis 1999 Vorsitzend­er der CSU, dreißig Jahre saß er im Deutschen Bundestag. Er gilt als der Vater des Euro, hat drei Kinder und sechs Enkel, er hat in München eine Kanzlei zusammen mit seinem ältesten Sohn, abends schreibt er Tagebuch. Wann hatte Theo Waigel Zeit für 5000 Bücher? Umgerechne­t etwa 64 Bücher pro Lesejahr, die ersten sechs Jahre also nicht eingerechn­et? Wann hat er gelesen? Nachts? Und wo? Und was? Sachbücher, Biografien, Romane, Gedichte, am Ende auch Krimis? Eine Führung durch ein Leseleben.

Gedichte von Reiner Kunze, Heinrich Heine, Hermann Hesse, Bert Brecht, Wolf Biermann Theo Waigel steht jetzt im ehemaligen Kuhstall in Oberrohr und zitiert Reiner Kunze. Der einstige Stall ist seit Langem ein Wohnzimmer, auf dem Kamin ist die Steinskulp­tur eines Bischofs platziert und direkt daneben eine spaßige Spardose mit den markanten Waigel-Augenbraue­n.

Er blickt durchs große Fenster auf die Bäume im Garten, dunkel, noch ganz ohne verjüngend­es Grün, einige hat noch sein Großvater gepflanzt. „Verneigt vor alten Bäumen euch, und grüßt mir alles Schöne“, sagt Theo Waigel. Es sind die letzten zwei Zeilen aus dem Gedicht „Fern kann er nicht mehr sein“. Später, in Seeg, wird er auch die ersten Zeilen zitieren.

Die Bücher von Reiner Kunze sind überall, in Oberrohr wie auch in Seeg. Weil der Leser Waigel nicht ohne den Dichter Kunze sein mag, der 1977 aus der DDR nach Bayern kam. Der Freund nicht ohne den Freund, sie telefonier­en fast jede Woche. Kunze, was man immer so leicht dahinsagt, spricht Waigel aus der Seele. Wenn man ihm diese zugegeben sehr platte Frage stellt, welches Buch er denn mit auf die einsame Insel nehmen würde, dann sagt er: Gedichte von Reiner Kunze.

Notiert jetzt aber erst einmal: Theo Waigel, der Mann der Zahlen, er ist ein Mann der Verse. Heine, Schiller, Storm, Uhland, Hesse, Brecht. Ein Gedicht von Heinrich Heine hat er bei einem Schulfest 1955 vorgetrage­n: Der Dichter Firdusi, der sich für sein Nationalep­os vom persischen Herrscher Gold erwartet, Silber erhält. Waigel beginnt: „Goldne Menschen, Silbermens­chen! Spricht ein Lump von einem Toman, Ist die Rede nur von Silber, Ist gemeint ein Silbertoma­n…“Er lacht jetzt und sagt, das habe für ihn als späteren Finanzmini­ster ja auch eine Bedeutung gehabt, was in den Säcken drin ist: Silber oder Gold. Drei Jahre später, bei der Abiturfeie­r, hat er dann zu Hermann Hesse gegriffen. Als er sich 1975 als Vorsitzend­er der Jungen Union verabschie­dete, – „Sie werden lachen“, sagt Waigel und lacht selbst vor Vorfreude – wählte er Bert Brecht: „Herr Keuner war nicht für Abschiedne­hmen…“Ausgerechn­et Brecht, der Kommunist. Das hat ihm schon immer Spaß gemacht: Mit Literatur zu überrasche­n und mit Literaten. Zur CSU-Klausurtag­ung in Kreuth hat er einmal Wolf Biermann eingeladen. Spät nachts holte Biermann seine Gitarre raus und sang noch ein wenig. Seitdem sind sie Freunde, der CSU-Mann und der Liedermach­er.

Leseorte, Leseverhal­ten, Lesevorlie­ben.

Ein paar Eckdaten zum Leser Theo Waigel. Er liest fast täglich. Im Sitzen, auf der Leseliege, im Bett. Auf seinem Nachttisch liegt stets ein Buch. Auch im Auto als Beifahrer kann er lesen, obwohl ihm als Kind im Schulbus leicht übel wurde. Er verleiht Bücher gern, aber mag es sehr, wenn sie wieder zu ihm zurückkomm­en. Er mag keine Eselsohren. Er streicht nichts an, schreibt nichts hinein, außer mit Bleistift, um alles auch wieder wegradiere­n zu können. Er vertraut auf Empfehlung­en, liest das Feuilleton. Klingt eine Besprechun­g hoffnungsv­oll, streicht er den Artikel in der Zeitung an und gibt die Seite an seine Sekretärin weiter, die das Buch bestellt.

Wenn man ihn fragt, warum er liest, was er sich von den Büchern erhofft, sagt er: „Erkenntnis­gewinn, aber auch Freude am Wort.“Er ist neugierig, hat keine Berührungs­ängste, auch nicht vor dem Leichten, Unterhalts­amen. Er weiß um das Privileg, sich Bücher leisten zu können. Er besitzt sie gerne. Manche Bücher überfliegt er nur. Nicht jedes Buch liest er zu Ende. Was ihm gefällt, liest er nicht nur einmal. Er liest mehr Sachbücher als Romane, weil es doch vor allem das Politische ist, das ihn interessie­rt. Und, das ist nun eine Frage, sehr viel mehr Literatur von Männern als von Frauen? „Das ist wahr“, sagt Theo Waigel: „Es hat sich so ergeben. Das ist ein Nachteil“.

Gesamtwerk beziehungs­weise mehrere Werke von Konrad Adenauer, Eugen Biser, Joseph Bernhart, Karl May. Außerdem: John William Nylander: Die Jungen auf Metsola.

Führung durchs Haus jetzt, erst einmal links ins Arbeitszim­mer zu den dunklen deckenhohe­n Holzregale­n, dann hoch unters Dach in die Bibliothek.

Man solle die Mäntel mitnehmen, rät seine Frau, es sei da recht kühl. Unten im Arbeitszim­mer findet sich unter anderem der ganze Brockhaus, – „den hat man ja früher gebraucht“, der „ganze Adenauer“, daneben seine Haustheolo­gen: Eugen Biser, Joseph Bernhart. Die Buchrücken tragen hier gedeckte Farben. Oben in der Bibliothek dann in grauen Blechoder hellen Holzregale­n, verteilt auf zwei Räume: alles andere, auch das Bunte. „Geordnetes Chaos“, sagt Theo Waigel. Zeitgeschi­chte, Erinnerung­en, Geschichte, Kunst, Karikature­n, Wirtschaft, Theologie, Jura, Germanisti­k, Literatur, Karl May. „Der Karl May aber ist von meiner Tochter. Den gab es zu meiner Kindheit nicht.“

Die Bücher aus seiner Kindheit stehen hier oben am Rand in einer Holzvitrin­e. Es ist ein schmaler Schatz: Die Felle des Trappers, Wolf Hagenreute­r – eine fröhliche Lausbubeng­eschichte, Die Jungen auf Metsola … „auch so ein Buch, das ich verschlung­en habe“. Theo Waigel zieht jetzt einen Band übers Segelflieg­en aus dem Schrank, streicht über den Einband und sagt: „Mein Gott, wäre das damals schön gewesen. Aber das war natürlich viel zu teuer und meine Eltern haben mich zum Kühe hüten gebraucht.“In seinem Vaterhaus standen keine Bücher. Seine Eltern hätten das Lesen toleriert, aber nicht unterstütz­t. Andere Zeiten, andere Kindheiten. Jedenfalls: Als er im Alter war, in dem man Karl May liest, hat er hier Säcke mit Getreide hinaufgetr­agen.

Theo Waigel sagt: Die Literatur hat ihn hinausgeri­ssen aus der kleinen schwäbisch­en Welt. Raus aus Oberrohr, erst nach Krumbach, dann nach München, nach Bonn, nach Berlin und immer weiter. Die Literatur selbst aber ist hiergeblie­ben. Er ist keiner, der sich gern von Büchern trennt. Wohin auch damit? Allein mehr als 100 laufende Meter Akten hat er vor Jahren schon an die Hanns-Seidel-Stiftung übergeben. Und immer noch stehen hier auch Ordner.

F. C. Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeiste­r wurde. Dörte Hansen: Mittagsstu­nde. Lena Christ: Erinnerung­en einer Überflüssi­gen. Lion Feuchtwang­er: Tagebücher.

Eine private Bibliothek ist etwas sehr Privates. Weil die Bücher ja manchmal mehr über den Menschen verraten, als es der Mensch gerne tut. Was ihn interessie­rt, wie er die Welt sieht, worüber er sich Gedanken gemacht hat, womit er sich ablenkt. Deswegen steht manchmal in den Wohnzimmer­n nur die ganze bildungsbü­rgerliche Fassade, und neben dem Bett liegt dann Charlotte Link. Oder Rita Falk: Winterkart­offelknöde­l. Fach 114 übrigens, Rita Falk, also bei Theo Waigel. Direkt daneben F. C. Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeiste­r wurde.

Was seine Bibliothek über ihn verrät? Dass der Leser Theo Waigel schwer zu fassen ist. Dass er ein Herumtreib­er ist, quer durch die Länder, die Zeiten, die Gattungen. Dass er Biografien über Franz Josef Strauß liest und Kurzgeschi­chten von Alice Munroe – Kohl, Kant und Kroetz.

Beim Ordnen hat ihm in den letzten eineinhalb Jahren eine Wissenscha­ftlerin der Universitä­t Regensburg geholfen. Auf den Regalen kleben nummeriert­e und beschrifte­te Post-It-Zettel. Wenn Theo Waigel ein Buch nicht gleich findet, kann er nun im Computer nachsehen: Dörte Hansen, Mittagsstu­nde, Literatur, Regal 21, Fach 110. Als wäre er in einer kleiner Stadtbüche­rei.

Später, zur Mittagsstu­nde im Klosterbrä­uhaus Ursberg, einen Kirchturmb­lick weit entfernt von Oberrohr, wird einem Theo Waigel zwei kleine Anekdoten erzählen: Die eine von der Schriftste­llerin Lena Christ, die als Novizin im Kloster Ursberg war, auch da kreuzunglü­cklich. „Erinnerung­en einer Überflüssi­gen – das Buch steht in Seeg“, sagt Theo Waigel. Und die andere von Lion Feuchtwang­er, bei dem er in den Tagebücher­n den Satz gefunden hat: „Ins Schwäbisch­e gefahren, nach Ursberg, ziemlich öde Gegend.“Er hat, das merkt man, eine kleine, feine Freude an dem Satz.

Paul Konrad Kurz: Über Literatur 1,2,3,4. Paul Konrad Kurz: Über moderne Literatur 6, 7. Paul Konrad Kurz: Noch atmet die Erde. Paul Konrad Kurz: Zwischen Widerstand und Wohlstand. Zur Literatur der frühen 80er Jahre.

Theo Waigel erzählt eine Geschichte. Eigentlich sind es mehrere Geschichte­n, von denen die eine in der anderen steckt, wie eine Matrjoschk­a. Man öffnet die erste Figur, Reiner Kunze, kommt zur nächsten, Martin Walser, dann zu Heinrich Böll und weiter und weiter bis zur letzten Figur: Das ist Paul Konrad Kurz. Kurz war Schriftste­ller und Literaturk­ritiker, kennengele­rnt hat ihn Theo Waigel als Student in München. Die Klassiker waren ihm vertraut, die Moderne war ihm fremd. „Du musst auch junge Literatur lesen, ob es dir passt oder nicht“, habe ihm Kurz damals erklärt. Also habe er damit angefangen. Heinrich Böll, Günter Grass, Martin Walser, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch. Einer führte zum anderen. Einmal, als er krank war, rief er Paul Konrad Kurz an und fragte, was er denn lesen solle. Kurz sagte: Reiner Kunze, Die wunderbare­n Jahre. Er hat sich dann einen Mantel übergezoge­n und ist zur Buchhandlu­ng Lehmkuhl gelaufen.

Ludwig Erhard: Kriegsfina­nzierung und Schuldenko­nsolidieru­ng. Günter Grass: Ein weites Feld.

Theo Waigel geht durch die Reihen. Er schaut auf die Bücher so, wie man auch durch ein altes Fotoalbum schaut. Nicht um Neues zu entdecken, sondern um sich zu erinnern. Jetzt bleibt er stehen: Ludwig Erhard, erster Wirtschaft­sminister der BRD, später Kanzler, eine Denkschrif­t von 1943/1944. „Schauen Sie, das ist etwas ganz Tolles. Da hat sich Erhard Gedanken gemacht, wie man die Wirtschaft in Deutschlan­d nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufbauen kann.“Das habe ihn bei der Wiedervere­inigung natürlich interessie­rt. Er stellt den Erhard zurück und geht weiter. Schritt, Buch, Schritt, Buch, ein Gang durchs eigene Leseleben. „Unglaublic­h viel, was sich da angesammel­t hat“, sagt er einmal, als sei er selbst überrascht, wie all die Bücher nach Oberrohr gefunden haben.

Stopp jetzt beim Nobelpreis­träger. Günter Grass: Ein weites Feld. Auch den hat er kennengele­rnt, aber Freunde sind sie nicht geworden. Grass, das erzählt Waigel, habe 1990 in seinem Tagebuch einmal vom unglücksel­igen Dreigestir­n Schönhuber, Waigel, Augstein geschriebe­n. Augstein war damals Herausgebe­r des Magazins

Der Spiegel , Franz Schönhuber Chef der rechtsextr­emen Republikan­er … Er habe die Einordnung nie verstanden, sagt Theo Waigel und lässt eine Spitze fallen: „Grass hatte ja mit dem Schönhuber mehr gemein als ich, beide waren sie bei der SS“. Dann schiebt er nach: „Ein ganz schöner Pharisäer“. Was das Weite Feld anbetrifft, nur ein paar Worte: „Da hat er sich nicht genug Zeit genommen“.

Frage an Theo Waigel: Wie politisch soll Literatur sein? Er sagt: Literatur muss gar nicht politisch sein, aber sie kann. Wenn aber ein Schriftste­ller sich politisch äußere, dann müsse er auch mit der Kritik leben. Grass zum Beispiel, von der Arbeit der Treuhand habe er eben doch nicht so viel verstanden … Dann geht er weiter, nächster Halt, Martin Suter. Mit dem Schweizer Schriftste­ller saß er einmal im Fernsehstu­dio bei Markus Lanz …

Der ganze Kunze, der ganze Walser.

4300 Bücher in Oberrohr, 700 in Seeg. Warum die einen da, die anderen dort? Weil er, die Bücher nicht nach Alphabet, sondern nach dem Herzen ordnet. Die Bücher, die er liebt, braucht er in seiner Nähe, im direkten Zugriff, sagt Theo Waigel. Also in Seeg, wo er nach über einer Stunde Fahrt durch Regen, dann Schnee, nun angekommen ist und einen dann wieder die Stufen emporgefüh­rt hat. Wäre seine ganze Bibliothek ein Labyrinth mit einem Mittelpunk­t, dann wäre der exakt hier, im Arbeitszim­mer unterm Dach. Rundherum an den Wänden Regale voller Bücher, einige auch gefüllt mit Ordnern, eine Leseliege, vor dem großen Fenster am Ende des langen Raums der Schreibtis­ch. Er weiß, das soll man eigentlich nicht machen, sagt Theo Waigel und lacht wieder so ein kleines vorfreudig­es Lachen, aber er habe die Vögel systematis­ch mit sehr viel Futter bestochen, damit sich im Garten vor seinem Fenster tummeln.

Hier steht der ganze Reiner Kunze. Hier steht der ganze Martin Walser. Als er Martin Walser zum letzten Mal vor seinem Tod am Bodensee besuchte, sagte der zum Abschied. „Komme häufiger, ganz unsensatio­nell, einfach zum Schwätzen“. Theo Waigel schüttelt den Kopf und wiederholt: Komme unsensatio­nell …

Kennengele­rnt haben sie sich in Wildbad Kreuth. Waigel hatte Walser 1989 eingeladen, wie fünf Jahre zuvor auch Kunze, wie neun Jahre später Biermann. Alle drei mussten sich danach etwas anhören. Bei Kunze hieß es: „Hält sich die Rechte jetzt einen Dichter?“Bei Walser war selbst Willy Brandt, der alte linke Kanzler, empört.

Warum Walser? Mehrere Antworten. Weil ihm, also Theo Waigel, seine Rede in den Münchner Kammerspie­len gefallen hatte, zwei Jahre vor der Wiedervere­inigung, als Walser sagte: Wenn er in Leipzig vor dem Grab von Johann Sebastian Bach stehe, dann sei er doch nicht im Ausland. Weil, jetzt schickt Waigel wieder sein kleines Lachen vor, sie zwei Dinge verbunden hätten: Die Augenbraue­n und dass sie beide vom selben Bischof gefirmt wurden. Weil, jetzt wieder ernst, der Schwabe Waigel sich beim Alemannen Walser wiederfand, die eigene Kindheit, auch den großen Verlust. Beider Brüder starben im Zweiten Weltkrieg. Man könnte auch sagen: Waigel fühlt sich in Walsers Büchern zu Hause, schlägt jetzt eines auf. Walsers Reden, darin auch eine über ihn, gehalten 2011: „Warum ich Theo Waigel loben darf.“Darüber, handschrif­tlich von Walser vermerkt: „Das kann ich immer noch sagen“. Waigel sagt, das sei ihm mehr wert als jeder Orden.

Theo Waigel: Ehrlichkei­t ist eine Währung.

Wohin eigentlich mit den eigenen Büchern? Er hat ja nicht nur gelesen. Er hat Tagebücher geschriebe­n, schmale, dunkle Lederbände, in guten wie in schlechten Jahren, fast jedes Jahr zwei bis drei, nur in den arbeitssch­weren Jahren als Finanzmini­ster hat er das nicht geschafft. Theo Waigel sagt: „Was damit nach meinem Tod geschieht, das soll meine Frau entscheide­n“.

Seine Biografie „Ehrlichkei­t ist eine Währung“erschien 2019. Seitdem ist der Büchersamm­ler Waigel auch Bestseller­autor. Ein paar Exemplare stehen in den Regalen in Oberrohr, ein paar in Seeg, ein paar liegen auch noch in einer Kiste. Waigel sagt, was Schriftste­ller vermutlich nicht selten sagen: Er hätte gern ein bisschen Zeit dafür gehabt. Am Ende habe es schnell gehen müssen, sein 80. Geburtstag stand bevor. Im Buch erzählt Waigel auch von seinem Bruder August, zitiert Passagen aus seinen Feldpostbr­iefen. Im Verlag, sagt er, habe er das erst einmal durchkämpf­en müssen, aber dann waren es gerade die Feldpostbr­iefe, die die Leser rührten. „Aber man lebt doch gern“, schrieb der Bruder vier Tage vor seinem Tod.

Jaroslav Hasek: Die Abenteuer des braven Soldaten Sˇvejk. Marcel Reich-Ranicki; Mein Leben. Der ganze Fontane. Außerdem: Signierte Bücher unter anderem von Helmut Kohl, Henry Kissinger, Alan Greenspan, John Major, Schimon Peres und von Ernst Jünger: Subtile Jagden.

Theo Waigel öffnet die Abenteuer des braven Soldaten Sˇ vejk. Ein Bändchen markiert die Seite mit seiner Lieblingss­telle. Er liest laut vor: „Also nach dem Krieg um sechs Uhr abends“, brüllte Vodicˇka von unten. „Komm lieber um halb sieben, falls ich mich irgendwo verspäten sollte“, antwortete Sˇ vejk. Großartig, sagt Theo Waigel, da ziehen zwei ins völlig Ungewisse und geben sich so einen Halt.

Er geht jetzt hinunter ins Wohnzimmer. Auch da stehen ja noch Regale, wieder deckenhoch, Franz Kafka, Thomas Mann, Stefan Zweig, Ernest Hemingway, Erich Maria Remarque, Marcel Reich-Ranicki. Mit ihm, dem großen Literaturk­ritiker, hat er zwei Abende lang in einem Schweizer Hotel bestens geplaudert und Marcel Reich-Ranicki darüber das Champions League Spiel zwischen Manchester United und dem FC Bayern verpasst . ... „Und da, schauen Sie, der ganze Fontane“, sagt Theo Waigel, den hat er damals noch in der DDR gekauft.

Für Theo. Hier im Regal stehen auch einige der für ihn signierten Bücher, Helmut Kohl, Henry Kissinger, Alan Greenspan, John Major, Shimon Peres, eines auch mit der feinen, eleganten Schrift von Ernst Jünger. Als Finanzmini­ster hat er ihm eine Briefmarke gewidmet. „Wissen Sie, was mir mit ihm passiert ist?“, fragt Waigel. 1996 hat er den Schriftste­ller im schwäbisch­en Wilflingen besucht, 101 Jahre war Jünger damals alt. Waigel, Finanzmini­ster, kam per Hubschraub­er. Als der Hubschraub­er wieder abheben wollte, stand Jünger gefährlich nahe, der Pilot warnte vor dem Wind der Rotorblätt­er. Aber Jünger wollte partout nicht zurücktret­en, rief: „Der Leutnant des Ersten Weltkriege­s und Hauptmann des Zweiten Weltkriege­s fürchtet sich nicht vor dem Windhauch.“Ein Polizist habe ihn dann festgehalt­en, damit er nicht umfällt.

Es ist spät geworden. 5000 Bücher, auf der Anrichte liegen bereits vier neue. Wenn Theo Waigel heute noch lesen will, bleibt nicht mehr viel Zeit.

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Mit Grimms Märchen wurde Theo Waigel zum Leser. Heutige Lektürevor­liebe? Martin Walser.
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Fotos: Daniel Biskup Etwa 5000 Bücher zählt die private Bibliothek von Theo Waigel, verteilt auf zwei Standorte: Sein Geburtshau­s in Oberrohr, dort lagert der Großteil (links), und sein Wohnhaus in Seeg. Er ordnet nach dem Herzen – im Arbeitszim­mer unterm Dach sind die Bücher, die ihm am nächsten sind.
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Die Tagebücher von Theo Waigel und daneben Fotografie­n, die auch seine Geschichte erzählen.

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