Roman von Ewald Arenz Ewald Arenz: Alte Sorten (69)
Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgängerinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiedenheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrscht reagiert.
© 2019 DuMont Buchverlag, Köln
„Mich holt keiner mehr. Ich habe gestern Geburtstag gehabt.“
Liss brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen. Erst dann kam die Erleichterung, und sie konnte sagen: „Gestern? Herzlichen Glückwunsch. Es gibt schönere Geburtstage.“
Sally zuckte die Schultern. „Es gibt auch schlimmere. Ich habe gestern eine Pistole geschenkt bekommen. Ist doch schon was.“
Liss schwieg, aber als sie den ersten Bissen von ihrem Brot nahm und Sally zusah, wie sie wieder in ihrem Buch las und ab und zu einen Schluck Tee trank, da spürte sie, wie es überall in ihr sehr leise zu prickeln begann.
10. Oktober
Es waren ganz stille Tage. Sie bewegten sich beide immer noch vorsichtig. So als wären sie lange über das Eis eines zugefrorenen Sees gelaufen, das Sprünge bekam und knisterte, wenn man zu forsch auftrat. Wie nach einem Tag dichten Schneefalls, wenn man nicht sicher sein kann, ob man noch auf dem See oder schon auf festem Boden ist, weil alles gleichmäßig weiß ist.
Stille Tage, in denen sie über nichts Wichtiges sprachen. Sie hatte am ersten Morgen die Hühner weit hinten im Garten vergraben, weil sie nicht wollte, dass Liss sie im Hof sah. Liss fragte nicht nach ihnen. Und sie hatte die Pistole versteckt. Sie wusste, dass es eigentlich egal war, denn wenn Liss noch einmal versuchen wollte, sich umzubringen, dann würde sie einen
Weg finden. Aber trotzdem konnte sie nicht anders.
„Wir brennen heute.“
Es war das erste Mal, dass Liss wieder etwas arbeiten wollte. Es war wahrscheinlich, dachte Sally, als ob man nach langer Krankheit aufstand und noch nicht wusste, wie schwach man noch war, ob einen die Beine durch den Tag tragen würden und ob man nicht vielleicht gleich wieder atemlos wurde.
Liss redete nicht viel. Na ja. Sie redete ja nie viel. Nur im Augenblick noch weniger. Aber das machte nichts. Liss redete mit ihren Bewegungen. Und es gefiel Sally, dass sie Liss verstand; dass sie ohne Worte verstand, was getan werden musste. Sie sah zu, wie Liss das Holz in der Brennkammer sorgfältig so schichtete, dass Luft durchging. Sie brauchte ein bisschen, bis sie das Gewirr der kupfernen Kessel und Röhren begriff, aber sie war ja nicht doof. Und den Rohren zu folgen, der Anordnung der verschiedenen Behälter; zu überlegen, wo sich dann der verdampfte Alkohol
niederschlug, wie er gekühlt wurde und schließlich heraustropfte, das gefiel ihr. Sie mochte den alkoholisch scharf aromatischen Geruch der Birnenmaische in der Kelterhalle. Ihr kam es so vor, als wäre eine sehr lange Zeit vergangen, seit sie im Birngarten gewesen waren. Sie mochte auch das matte Leuchten des kupfernen Brenners im Widerschein des Feuers, wenn sie die Klappe öffnete, um erneut zu schüren. Es sah so altertümlich aus, aber dabei durchdacht und effektiv. Etwas, das man nicht ändern wollte.
„Wozu ist das?“, fragte sie Liss und deutete auf die Kupferkugel, die über dem Brenner saß.
„Das nennt man den Hut“, antwortete Liss, während sie an einem roten Rädchen drehte. Auf dem Manometer darüber wanderte der Zeiger nach rechts.
Sally wollte die Hand darauf legen, fühlte aber erst vorsichtig, wie heiß er war. Es ging noch, und sie fuhr mit den Fingern über das Kupfer. Es war glatt, aber auf besondere
Art uneben; eine fast weiche Struktur von Tausenden winzigen Mulden und Wellen. Liss sah ihr zu.
„Das Kupfer ist dreifach gehämmert“, sagte sie. „Man muss es verdichten, damit es glatt bleibt. Sonst reagieren die Fruchtsäuren mit dem Metall, und dann wird es innen rau, und der Geschmack verändert sich.“
„Fühlt sich cool an. Und das hier?“
Sie klopfte mit den Fingerknöcheln an etwas, das wie der Schornstein einer Lokomotive aussah, nur dass er oben geschlossen war.
Liss lächelte fast unmerklich, und Sally stellte fest, dass es das allererste Mal seit Tagen war.
„Der Name wird dir gefallen. Dephlegmator.“
„Was macht der? Dass der Schnaps einen weniger phlegmatisch macht oder was?“
Sie fand die Vorstellung wirklich lustig, dass der Birnenschnaps auf geheime Weise irgendwie verändert wurde.
Liss zog die Tonne mit der Maische
heran und begann, diese in den unteren Kessel einzufüllen. Sally nahm sich das andere Plastikmaß und schöpfte mit. Sie konnte nicht widerstehen, von dem braunen Brei zu probieren, und verzog sofort den Mund. Er schmeckte sauer alkoholisch, vergoren und irgendwie nur noch schwach nach Birne. Er roch viel besser, als er schmeckte. Liss sah zu ihr hinüber.
„Der Geschmack ist jetzt längst im Duft“, sagte sie. „Den wollen wir ja einfangen.“
Sie schöpften den Kessel voll. Als Liss die Tür schloss, deutete sie auf den Zylinder, zu dem ein Rohr vom Hut führte.
„Der Dephlegmator ist eine großartige Erfindung“, sagte sie langsam. „Wenn du die Maische kochst, steigt beides auf: Wasserdampf und Alkoholdampf. Du willst aber nur den Alkohol. Der Dephlegmator ist so eingestellt, dass er den Dampf mit dem höheren Siedepunkt kondensieren lässt. So wird Wasser von Alkohol getrennt. 70. Fortsetzung folgt