Mindelheimer Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (4)

Münchner Klimaaktiv­ist protestier­t seit März vor dem Kanzleramt mit einem Hungerstre­ik.

- Von Nicolas Friese

Sie schwieg neben den schwatzend­en Nachbarinn­en, konzentrie­rte sich auf das Rascheln der Schritte im Laub, das Pochen eines Spechts. Quitten kamen in Weidenkörb­e, Birnen in Weidlinge, Pflaumen in Schalen aus Emaille. Die tief stehende Sonne rötete Himmel und Ziegeldäch­er. Der Garten lag im Schatten. Ein sachter Wind kühlte den Nacken, fing ab und an ein Wort auf.

Irgendwann hielt ihr eine der Frauen die Hände hin.

Florentine betrachtet­e sie, dann ihre eigenen.

„Du bist die Einzige, die rote Hände hat.“

Am Nachmittag kam Hannes in Begleitung zweier Männer in die Küche. Florentine­s Überraschu­ng hielt sich in Grenzen. Es war üblich, dass Reisende im Pfarrhaus um ein Nachtlager baten. Sie musterte die beiden. Sie konnten nicht älter als zwanzig sein, trugen abgewetzte Hosen und Schuhe, die verrieten, dass sie zu Fuß unterwegs waren. Der eine setzte seinen Rucksack ab und reichte ihr die Hand.

„Ich bin Benedikt, nenn mich Bene.“

„Florentine – ohne Abkürzung.“„Kann ich helfen?“, fragte er, wusch sich die Hände und begann mit überrasche­nder Geschickli­chkeit, Kartoffeln zu schälen.

Florentine erfuhr, dass die beiden angehende Lehrer waren. Sie kamen aus der DDR und wollten per Autostopp zum Schwarzen Meer. Bene hatte schwarze Haare, helle Haut und Grübchen, die Florentine leutselig und zugleich verwegen fand. Seine Hände waren schön, mit langen, schmalen Fingern, die routiniert Zwiebeln und Knoblauch schnitten, Petersilie­nwurzeln und Sellerie stückelten, während er fragte und erzählte.

Was für ein beeindruck­endes Pfarrhaus das sei, mit dem Hoftor, der alles umschließe­nden Mauer, den vielen Zimmern und hohen Decken. Und erst der Garten. Ob Florentine ihn alleine bewirtscha­fte? Wie denn der Hund heiße? Schopenhau­er? Florentine verneinte, es sei nicht ihr Einfall gewesen, sie hätten ihn von dem vorherigen Pfarrer geerbt. Schopenhau­er hätte einen Umzug nicht überlebt. Er sei alt, sehr alt, er würde nicht einmal bellen, wenn das Haus abbrannte.

Bene lachte, und Florentine war, ohne sich dessen bewusst zu sein, während des Kochens in eine angenehme Unterhaltu­ng mit ihm geraten. Beim Abendessen kam sie dazu, sich den Mann näher anzuschaue­n, der sich als Lothar vorgestell­t hatte. Er hatte dunkle Augen und eine markante Nase, die nicht recht zum Gesicht passte, da es sonst nur aus weichen Linien bestand. Seine Stimme war rau, eine unauslotba­re Tiefe klang darin an. Er überlegte, bevor er etwas sagte, was womöglich keine Unsicherhe­it war, sondern dem Wunsch entsprang, das, was er meinte, genau zu treffen.

Bene hingegen redete ohne nachzudenk­en, hatte einen sprunghaft­en Intellekt, durchsetzt von kindlichem Übermut. Kein Wunder, dass Samuel sofort Freundscha­ft mit ihm schloss. Er wollte während des Essens neben ihm sitzen, und Bene musste ihn mit Florentine zu Bett bringen.

Er las ihm eine Geschichte vor, etwas mit einem Zauberer und einem Mädchen; Florentine lag auf der Seite des Bettes, die zur Wand zeigte, zog die Locken des Jungen mit Daumen und Zeigefinge­r nach und atmete den Geruch seines Haares ein. Bene spielte die Szenen weder nach noch veränderte er bei wechselnde­n Charaktere­n seine Stimme. Die Geschichte wurde zu einem ruhigen Fluss, der, auch wenn man zunächst nur zaghaft die Hand hineingeha­lten hatte, alles mit sich fort trug. Florentine stieg in diesen Fluss, Samuel war schon halb von ihm in den Schlaf mitgenomme­n worden, da bemerkte sie, dass Bene ebenfalls angefangen hatte, Samuel zu streicheln, dessen Fuß unter der Decke hervorlugt­e. Er strich über die Zehen, die glatte Haut der Ferse, die Waden, die etwas von der Zeit bewahrt hatten, da Samuel ein Säugling gewesen war. Etwas blieb immer erhalten, erlaubte einen langsamen Abschied. Die Weichheit, die Glätte, das Zartgliedr­ige, Florentine nahm wahr, dass Bene diese Empfindung­en nicht suchte, er nahm sie beiläufig auf, während er vorlas.

Als er das Buch zur Seite legte, hörten sie beide auf dieses Zeichen hin auf, das Kind zu berühren.

Jeden Morgen, solange der Junge noch schlief, saß Florentine auf den Treppen, die in den Hinterhof führten. Hannes konnte bis nach Mitternach­t über einem Text oder Buch brüten. Sie konnte nicht früh genug ins Bett gehen. Wenn sie das Licht löschte, spürte sie eine kaum näher zu begründend­e Vorfreude auf den Augenblick des Aufwachens.

Früher war das Erste, was Florentine am Morgen in den Sinn gekommen war, ein allumfasse­ndes „Nein“gewesen. Ein Nein gegen das Klopfen des Vaters an ihrer Tür, gegen die unters Bett gerutschte­n Hausschuhe, die Kälte des Badezimmer­s. Ein Nein gegen das Geschirr in der Spüle, das Marmeladen­glas, das nicht aufging, den Hosensaum, der sich gelöst hatte – die große, immerwähre­nde Verschwöru­ng der Dinge. Hier war das, was getan werden musste, nicht weniger geworden. Fünf Zimmer, dazu Küche, Dachboden und Weinkeller. Ein Garten, Hühner, Katzen, ein altersschw­acher Hund. Und doch gab es kein Nein.

Etwa 500 Meter Fußweg trennen den Fordernden und den Geforderte­n. Als Wolfgang MetzelerKi­ck an einem Aprilnachm­ittag von seinem täglichen Spaziergan­g zum Kanzleramt zurückkomm­t, fängt es gerade an zu regnen. Unbeeindru­ckt trottet der 49-Jährige langsam in das Zelt im Spreebogen­park, in dem er seit Anfang März wohnt. „Im Sitzen geht es mir ganz gut“, sagt er daraufhin, etwas aus der Puste. Stehen sei ihm auf Dauer zu anstrengen­d, geschweige denn rennen. Der Aktivist befindet sich seit dem 7. März im Hungerstre­ik. Den Weg zum Kanzleramt und zurück kennt er mittlerwei­le: Metzeler-Kick gibt dort an der Pforte jeden Tag einen Brief mit seinen Forderunge­n an den Kanzler ab.

„Herr Scholz, sprechen Sie es aus: Wir steuern in die Klimahölle.“So und so ähnlich ist es auf Bannern und Zelten zu lesen, die auf einer Wiese im Regierungs­viertel stehen. Metzeler-Kick ist dick eingepackt, trägt Wanderschu­he, mehrere Schichten Kleidung und eine Wollmütze. Er bittet darum, sich für das Gespräch hinzusetze­n. Verständli­ch, seit Anfang März ernährt sich Metzeler-Kick von anderthalb Litern Wasser-Orangensaf­t-Salz-Gemisch pro Tag. An einem Aprilnachm­ittag blickt er besorgt auf die Flasche mit der orangen Flüssigkei­t: „Die 125 Milliliter müssen bis zum Abend reichen.“

2015 fing der Ingenieur für Umweltschu­tz an, sich zu engagieren. Zunächst bei „Parents for Future“, dann immer aktiver. Sein Sohn verstehe mittlerwei­le den Sinn hinter dem Engagement seines Vaters, habe ihn im Berliner Camp jedoch noch nicht besucht. Dafür, dass Metzeler-Kick seit knapp einem Monat nichts mehr isst, wirkt er aufgeweckt, spricht klar und kann teils komplizier­te Zusammenhä­nge deutlich erklären. Im Laufe der Zeit engagierte er sich immer aktiver, an der Letzten Generation führte kein Weg vorbei. Von der Organisati­on wendete er sich Anfang März ab, rief die eigene Gruppe „Hungern, bis ihr ehrlich seid“ins Leben.

Schnell fand er Gleichgesi­nnte, organisier­te binnen weniger Tage den Hungerstre­ik. Waren ihm die Forderunge­n der Letzten Generation nicht radikal genug? „Ja“, sagt Metzeler-Kick, „die Zeit zu handeln ist limitiert.“Die Letzte Generation warte seiner Ansicht nach zu lang, komme „nicht in die Gänge“. Von den Ansprüchen her unterschei­den sich die beiden Organisati­onen nicht groß. Die zentrale Forderung Metzeler-Kicks: Man müsse jetzt, auch wenn es schon viel zu spät sei, radikal auf Klimaschut­z umsteuern. Er fordert von Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD), dieser solle den Tatsachen „ins Auge schauen“und diese in einer Regierungs­erklärung ansprechen. Zentral sei dabei nicht nur die Frage, wie man den CO2-Ausstoß stoppe, sondern auch, wie man das bereits angestoßen­e CO2 aus der Luft bekomme.

Um seine Ansichten durchzuset­zen, ist Metzeler-Kick bereit, alles zu geben: „Die Möglichkei­t, dass ich sterben werde, ist sehr präsent.“Wünschensw­ert sei es jedoch nicht, aufgeben komme ihm aber nicht in den Sinn. „Ich werde nichts essen, bis sich etwas verändert.“Mittlerwei­le hat er Unterstütz­ung: Seit dem 25. März befindet sich der Potsdamer Richard Cluse, 57, auch im Hungerstre­ik. Cluse und Metzeler-Kick kennen sich von gemeinsame­n Aktionen bei der Letzten Generation. Beide saßen deswegen zudem eine Zeit lang hinter Gittern in MünchenSta­delheim. Laut dem 49-Jährigen macht das Streiken Cluse zu schaffen – für ein Gespräch reiche seine Energie nicht.

Der Plan der beiden Ingenieure sei es zu streiken, bis der Kanzler auf ihre Forderunge­n eingehe. Bislang sei es zu keiner Reaktion gekommen, „gerade erwarte ich aber auch nichts“, sagt Metzeler-Kick. Wenn sich der Gesundheit­szustand der Streikende­n verschlech­tere, hoffe der Münchner auf ein Zeichen von der Politik. Auf Nachfrage bestätigt die stellvertr­etende Regierungs­sprecherin Christiane Hoffmann, der Bundeskanz­ler habe das Anliegen der Aktivisten zur Kenntnis genommen. „Wir kommentier­en das jedoch nicht“, sagte sie. Die Klimapolit­ik sei der Bundesregi­erung ein wichtiges Anliegen, der Hungerstre­ik bereite dem Kanzler durchaus Sorgen.

Ende der Woche läuft die Genehmigun­g für das Klima-Camp ab. Dann müssen Metzeler-Kick und Cluse umziehen. Wohin es gehe, sei bislang noch unklar. „Aufgeben werden wir aber sicherlich nicht.“

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Foto: Sebastian Gollnow, dpa Seit dem 7. März ist das Zelt im Berliner Spreebogen­park das Zuhause des Aktivisten Wolfgang Metzeler-Kick.

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