In Bayern fehlen fast 15.000 Erzieher
Das Sozialministerium setzt auf Quereinsteiger, um die Lücke zu schließen. Doch Fachakademien und Fachschulen machen gegen das Konzept mobil. Kitas würden so zu Verwahranstalten.
Augsburg Die Kita-Krise in Bayern ist vor allem eine Personalkrise: Im Freistaat fehlen laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung mehr als 70.000 Betreuungsplätze – vor allem, weil es zu wenig Erzieherinnen und Kinderpfleger gibt. Nach einer Analyse des Staatsinstituts für Frühpädagogik und Medienkompetenz bräuchte es in bayerischen Kindertagesstätten 14.400 Fach- und Ergänzungskräfte mehr, um Kinder bis zur Einschulung adäquat zu betreuen. Bis 2029 könnten sogar 18.000 Mitarbeiter fehlen. Die Bertelsmann-Stiftung fordert daher, mehr Quereinsteiger für die Arbeit zu gewinnen.
Ein Modell, auf das auch Bayerns
Familienministerin Ulrike Scharf setzt: Seit Herbst 2022 will sie mit einem neuen Weiterbildungskonzept Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger für die Kitas gewinnen. Die CSU-Frau spricht von einem „Erfolgsmodell“: Mehr als 5700 Menschen ließen sich in Bayern derzeit zur Assistenzkraft, Ergänzungskraft oder Fachkraft qualifizieren.
Doch Fachakademien und Berufsfachschulen, die Erzieher ausbilden, kritisieren das Konzept nun massiv. Ein Bündnis aus acht Verbänden monierte bereits Mitte März in einem Brandbrief, die Qualität bayerischer Bildungseinrichtungen sei durch unzureichend ausgebildete Mitarbeiter gefährdet. Auf lange Sicht würden Kinder so nur noch aufbewahrt, aber nicht mehr erzogen. Die berufsbegleitende Qualifizierung für Quereinsteiger sei viel zu kurz und zu wenig praxisorientiert.
Timo Meister, der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft katholischer Ausbildungsstätten, sagt: „Quereinsteiger sind sehr wichtig, um die immense Fachkräftelücke in bayerischen Kitas zu schließen.“Doch Meister, der auch die Fachakademie für Sozialpädagogik Maria Stern in Nördlingen leitet, betont: Deren Qualifikation müsse eine vergleichbare Qualität haben wie die etablierte Ausbildung an Akademien und Berufsfachschulen. Die vierjährige Ausbildung zum Erzieher beinhaltet etwa 2940 Stunden Unterricht und 2700 Praxisstunden. Quereinsteiger erhalten nach 700 Stunden und einer Prüfung den Titel „Fachkraft in bayerischen Kindertageseinrichtungen“, mit dem sie Gruppen oder Einrichtungen leiten können.
Meister hält das für fatal. „Das Ziel – erziehen, bilden, betreuen – wird durch solche Wege völlig verkehrt und es geht nur noch um Betreuung. Das sind dann keine Bildungseinrichtungen mehr, sondern nur noch Verwahranstalten.“Aufgaben wie Elterngespräche, das Erstellen eines Bildungsplans oder die Anleitung von Praktikanten müssten Erziehern vorbehalten bleiben. „Diese Arbeit ist eine hochgradig verantwortungsvolle.“Gerd Schnellinger von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bayern betont, das Konzept löse auch in den Kitas viel Unmut aus. Er spricht von einem „Schlag ins Gesicht derjenigen, die jahrelang die klassische Ausbildung absolviert haben und einen deutlich höheren Aufwand hatten“.
Scharf sagt, es müsse klar zwischen der klassischen Erzieherausbildung und der Weiterbildung differenziert werden. „Das gegeneinander auszuspielen, halte ich für den absolut falschen Weg!“Darüber hinaus arbeite man auf mehreren Ebenen, um Nachwuchskräfte zu gewinnen. So ist die Zahl der Fachakademien für Sozialpädagogik binnen zwölf Jahren von 49 auf 73 gestiegen. Zudem wurden in den vergangenen Jahren jährlich zwischen 4000 und 5000 Mitarbeiter in den Kitas eingestellt. Scharf geht davon aus, dass der Erziehermangel in Bayern so spätestens bis 2028 gelöst ist.
Maria L. (Name geändert) hat lange auf diesen Tag gewartet. Ihr Kind soll vor etwa zwei Jahren in der Kita Greußenheim (Kreis Würzburg) misshandelt worden sein. Auch andere Kinder seien betroffen. Seit die Vorwürfe bekannt wurden, kämpft L. um Aufklärung. Belastbare Informationen gibt es kaum: Die Kita und die Gemeinde hüllen sich in Schweigen. Am Montag beginnt der Prozess gegen zwei beschuldigte ehemalige Erzieherinnen. Mehr als zehn Verhandlungstage sind angesetzt. „Ich will endlich die Wahrheit wissen“, sagt Maria L.
Die Liste der Vergehen, die die Staatsanwaltschaft den Erzieherinnen (damals 30 und 37 Jahre alt) vorwirft, ist lang. Nötigung, Misshandlung von Schutzbefohlenen und – teils gefährliche – Körperverletzung werden der 30-Jährigen vorgeworfen. „Die Taten sollen zwischen September und Dezember
2021 begangen worden sein. Die Angeschuldigte bestreitet die Vorwürfe bislang“, so die Staatsanwaltschaft nach Abschluss der Ermittlungen im Dezember 2023 in einer Pressemitteilung.
Recherchen unserer Redaktion hatten ergeben, dass die 30-Jährige einige Kinder extrem grob behandelt und sie zur Strafe in einen dunklen Raum eingesperrt haben soll. Ein Kind soll sie bis zum Erbrechen gefüttert haben. Die Beschuldigte hatte das stets bestritten. Der 37-jährigen Angeschuldigten wird laut Staatsanwaltschaft vorgeworfen, trotz ihrer gegenüber den Kindern bestehenden Obhutspflicht bei den meisten der Taten untätig geblieben zu sein. „Sie ist daher angeklagt, sich durch Unterlassen der vorsätzlichen Körperverletzung, der Misshandlung von Schutzbefohlenen sowie der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht zu haben.“Die 37-Jährige habe sich im Laufe der Ermittlungen geständig gezeigt.
Mutter Maria L. sagt, ihrem
Kind gehe es heute besser. Dennoch gebe es weiterhin Schwierigkeiten. Eine nähere Beschreibung von dem, was ihr Sohn in der Kita erlebt haben soll, ist nicht möglich, weil L. sonst identifizierbar wäre. Sie geht davon aus, dass ihr dadurch im Ort Nachteile entstehen würden. Im Umfeld der Kita kursieren Mobbingvorwürfe. Im kleinen Ort Greußenheim wird getratscht, es gibt eine Cliquenbildung.
„Im Ort wird die Sache kleingeredet“, sagt Maria L. Das Umfeld der Kita sei in zwei Lager aufgeteilt: „Manche Eltern sind genervt, dass das Thema jetzt schon wieder öffentlich wird. Aber für uns andere wäre es ein Sieg, wenn die Wahrheit endlich rauskommt.“Maria L. ist mit einigen weiteren Eltern als
Zeugin geladen. Die Staatsanwaltschaft hat zahlreiche Briefe verschickt, für viele Eltern ist es der erste Kontakt mit Strafverfolgungsbehörden. „Unter den Eltern gibt es viel Angst und Unsicherheit“, sagt L. „Was wird verhandelt? Wie läuft denn das?“, diese Fragen stellen sie sich. Laut Staatsanwaltschaft wird es am ersten Verhandlungstag vor dem Landgericht Würzburg voraussichtlich viel darum gehen, ob und wie sich die Beschuldigten äußern.
Danach beginnt die Beweisaufnahme. Eltern sollen von ihren Erfahrungen berichten, Verantwortliche der Kita und der Gemeinde werden voraussichtlich ebenfalls aussagen. Zudem ist damit zu rechnen, dass Gutachter aussagen werden, wie gefährlich der mutmaßlich gewalttätige Umgang für die Kinder war. Nach Auskunft des Landgerichts sind Verhandlungstermine bis in den Juni geplant. Als Folgetermine stehen bislang unter anderem Freitag, 12. April, und Freitag, 19. April, fest.
Unter den Eltern gibt es viel Angst und Unsicherheit.