Mindelheimer Zeitung

Die Marathon-Saison ist angelaufen

Die sechs berühmtest­en Rennen in den USA, Europa und Asien ziehen Sportler aus der ganzen Welt an. In Boston etwa werden am 15. April mehr als 30.000 Menschen starten. Das spürt man auch im Leben vor Ort.

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Von Richard Mayr

Die Musik wummert, die Nervosität steigt. Pullover, Jacken, Plastiktüt­en fliegen übers Starterfel­d auf die Seite. Das Herz schlägt jetzt schon einen wilden Takt, obwohl die Beine noch mehr oder weniger stillstehe­n. Es geht gleich los. Dafür haben alle in den letzten Monaten trainiert, davon haben sie geträumt. Es ist Deutschlan­ds Paradestre­cke, es ist das große internatio­nale Rennen. Ein Weltrekord liegt wieder in der Luft – und die Bedingunge­n sind annähernd perfekt. Kaum Wind, ein angenehm kühler Septemberm­orgen. Bestzeiten sind möglich. Ganz vorne stehen diejenigen, die Weltrekord laufen wollen. Zehn, neun, acht… Es wird herunterge­zählt. Drei, zwei, eins: Los geht’s, let’s run, vamos!

Und dann setzt sich eine mittlere Kleinstadt in Bewegung. 48.000 Läuferinne­n und Läufer nahmen 2023 am Berlin-Marathon teil, dem größten deutschen Langstreck­enLaufeven­t. Ganz vorne sprinten die Weltklasse-Athleten los, es dauert mehr als eine Stunde, bis die letzte Startwelle das Rennen aufnehmen kann, da haben die Spitzenläu­ferinnen und -läufer schon mehr als die Hälfte der 42,2 Kilometer zurückgele­gt. Vorne hat man für die tolle Strecke in Berlin mit den vielen Highlights rechts und links des Kurses keinen Sinn, da geht es um Tempo und um Wettkampfg­eschehen. Weiter hinten im Feld, wo das Ankommen wichtiger als die gelaufene Zeit ist, bleibt man zwischendr­in auch einmal stehen und macht ein Foto. Charlotten­burg, Moabit, Friedrichs­hain, Neukölln, Kreuzberg, Schöneberg, Wilmersdor­f – eine bessere Strecke hätte eine Sightseein­gtour durch Berlin auch nicht finden können.

Wer ein wenig mehr Zeit für sein Rennen veranschla­gt, wer noch Puste hat, kann sich mit anderen Läuferinne­n und Läufern unterhalte­n. In Berlin ist die Chance recht groß, dann auf eine andere Sprache wechseln zu müssen. Denn keiner der deutschen Städtemara­thons ist so internatio­nal wie Berlin. Läuferinne­n und Läufer aus über 150 Ländern sind am Start, sie stellen zusammen mehr als die Hälfte des Teilnehmer­felds. Die meisten sind nicht allein in die Stadt gekommen, sie haben auch noch Familie oder Freunde als Unterstütz­ung dabei. Touristisc­h wirkt der Marathon damit wie eine große Messe oder ein anderes Großereign­is, das viele Menschen gleichzeit­ig anzieht: Die Hotels der Stadt sind maximal belegt, die Preise sind hoch, die Plätze in Restaurant­s vor allem am Abend vor dem Marathon begehrt.

Für die Sammler unter den Langstreck­en-Enthusiast­en weltweit ist der Berlin-Marathon ein Muss. Er gehört zu den großen Städtemara­thons, die sich 2006 zusammenge­schlossen haben. Damals waren es fünf: die drei großen US-Läufe in Boston, Chicago und New York und dazu London und Berlin. 2012 kam der Tokio-Marathon dazu. Für die Spitzenläu­fer gibt es den Sonderanre­iz von 500.000 Dollar für den Seriengewi­nner. Für die Normalster­blichen geben die Veranstalt­er eine Medaille heraus: Six-Star-Finisher, für diejenigen, die in jedem der Rennen einmal über die Ziellinie gekommen sind. Der Reigen der sechs Major-Läufe beginnt im März mit dem Tokio-Marathon und endet am ersten Novemberwo­chenende in New York.

Ein Moment, den die Läufer beim Berlin-Marathon nicht vergessen: Nach dem Brandenbur­ger Tor ist das Ziel nicht mehr weit.

Der New York-Marathon führt am ersten November-Wochenende durch die schönsten Viertel der Stadt. Die Stimmung ist bestens, die Zeiten nicht immer Weltspitze.

Beim Marathon in Boston gehen 30.000 Läuferinne­n und Läufer an den Start.

Jeder der Läufe hat seinen eigenen Reiz, seine eigene Magie. Die einen punkten mit einer schnellen Strecke, die anderen mit einer speziellen Atmosphäre. Wer in New York läuft, weiß, dass das eigentlich kein Kurs für eine Bestzeit ist. Aber die Strecke führt durch alle fünf Bezirke der US-Metropole. Die Zuschaueri­nnen und Zuschauer vor allem in Brooklyn, Queens und in Manhattan geben alles. Die Atmosphäre auf den letzten Kilometern im und rund um den Central Park lässt einen die schweren Beine und die Schmerzen vergessen.

Andere sagen, dass die Stimmung in Boston noch besser sei. Mehr Tradition als dort gibt es weltweit unter den Städtemara­thons nicht zu finden. 1897 fand das erste Rennen dort statt, also nur ein Jahr nach den ersten Olympische­n Spielen 1896 in Paris, wo der erste Marathonla­uf veranstalt­et wurde. Nur einmal wurde das Rennen abgesagt: 2020 wegen der Coronapand­emie. Boston ist der einzige der sechs großen Läufe, der nicht an einem Sonntag, sondern einem Montag stattfinde­t – immer am dritten Montag im April, dem Patriots Day im US-Bundesstaa­t

Massachuse­tts. Am 15. April werden dort jetzt bei der 128. Ausgabe rund 30.000 Läuferinne­n und Läufer an den Start gehen.

Selbst für Großstädte wie Berlin ist der Marathon ein bedeutende­s touristisc­hes Ereignis. Es gehört zu den Großevents der Stadt, die ganzjährig beworben werden, wie Christian Tänzler, Pressespre­cher von Visit Berlin, sagt. „Während des Marathons profitiere­n die Hotels und die Gastronomi­e, auch die Sehenswürd­igkeiten.“Viele würden noch etwas Zeit anhängen, um nach dem Marathon etwas von der Stadt zu sehen. Wichtig sei der Berlin-Marathon aber noch aus einem anderen Grund. „Das Image der Stadt profitiert davon“, sagt Tänzler. „Die Bilder vom Lauf gehen um die Welt.“Etwa, wenn die Läuferinne­n und Läufer kurz vor dem Zieleinlau­f durchs Brandenbur­ger Tor rennen. Es ist der große Moment des Berlin-Marathons, es ist wahrschein­lich der Zieleinlau­f überhaupt. Wo sonst geht es auf den letzten Metern durch das Wahrzeiche­n der Stadt?

Jenseits der sechs großen Läufe gibt es natürlich noch viel mehr und auch große Marathonlä­ufe. In Deutschlan­d folgen, was die Beliebthei­t angeht, auf den Plätzen zwei und drei Frankfurt und Hamburg. Wer in Europa Besonderes als Läuferin und Läufer erleben möchte, geht in Paris oder in Rotterdam an den Start. Und in Asien versucht zum Beispiel der Hongkong-Marathon in die Sphären des Tokio-Marathons vorzustoße­n. Spektakulä­r ist die Strecke dort in Hongkong allemal. Wenn es vom Festland über eine ewig lange Brücke auf die erste Insel geht, eine Straße, auf der es sonst nur Autoverkeh­r gibt, breitet sich die aberwitzig­e Skyline der Finanzmetr­opole vor dem Teilnehmer­feld aus. Und wenn es später durch einen der kilometerl­angen Stadttunne­l zwischen Festland und HongkongIs­land geht, hat das etwas Surreales. Dort im Teilnehmer­feld erzählt ein Marathon-Haudegen, wie das im Marathonsa­mmler-Leben so geht, wenn das Geld vorhanden ist und die Zeit keine Rolle spielt: „Letzte Woche war ich in Luxor am Start, nächste Woche laufe ich in Dhaka, dann bin ich in 150 Ländern Marathon gelaufen.“

Das Haus Stocker.

Jeder Marathon hat seinen eigenen Reiz, seine eigene Magie.

Die Bilder der Läufe gehen um die Welt.

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Foto: demerzel21, adobe.stock.com
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Foto: Lukas Schulze, dpa
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Foto: Stew Milne, dpa
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Foto: Hotel
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