Mindelheimer Zeitung

Scholz ruft zur Deeskalati­on in Nahost auf

Nach dem Vergeltung­sschlag Israels auf den Iran wächst die Sorge vor einem Flächenbra­nd in der Region. Dagegen sprechen die verhaltene­n Reaktionen aus beiden Ländern. Irans Atomanlage­n wurden nicht getroffen.

- Von Stefan Lange

Nach der israelisch­en Antwort auf die Angriffe aus dem Iran wächst in Deutschlan­d die Sorge vor einem Flächenbra­nd im Nahen Osten. „Wir rufen alle dazu auf, in der Zukunft weiterhin zur Deeskalati­on beizutrage­n“, mahnte Bundeskanz­ler Olaf Scholz: „Die Deeskalati­on bleibt das Gebot der nächsten Zeit.“

Zuvor hatten amerikanis­che Offizielle gegenüber dem Sender CBS bestätigt, dass in den frühen Morgenstun­den des Freitags eine israelisch­e Rakete im Iran eingeschla­gen ist. Israel bestätigt solche Militärakt­ionen routinemäß­ig nicht. Nach Informatio­nen der Zeitung Jerusalem Post galt der Angriff

einer Luftwaffen­basis in Isfahan, unweit der iranischen Atomanlage­n. Diese wurden nach Angaben der Internatio­nalen Atomenergi­ebehörde aber nicht getroffen.

Iranische Staatsmedi­en berichtete­n lediglich von der Sichtung und dem Beschuss mehrerer kleinerer Flugobjekt­e über der Provinz Isfahan. Angaben zum Schaden und zu möglichen Verletzten oder gar Toten gab es zunächst nicht. Beobachter sehen die verhaltene­n Reaktionen als Zeichen dafür, dass beide Länder die Aktion heruntersp­ielen wollen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden.

Dem Raketenang­riff war in der Nacht zum vergangene­n Sonntag ein beispiello­ser Angriff Irans auf Israel vorausgega­ngen. Hunderte Drohnen und Raketen wurden von den Revolution­sgarden abgefeuert, die meisten konnten abgefangen werden. Die Regierung in Teheran begründete ihr Vorgehen mit einem den Israelis zugeschrie­benen Luftangrif­f auf seine diplomatis­che Vertretung in Damaskus. Dabei wurde unter anderem ein hochrangig­er Kommandeur der Revolution­sgarden getötet.

Die Außenminis­terin Annalena Baerbock hatte bei ihrem Besuch in Israel am Mittwoch den iranischen Angriff scharf verurteilt und Israel erneut „die volle Solidaritä­t“Deutschlan­ds zugesicher­t. Gleichzeit­ig warnte die Grünen-Politikeri­n auch: „Aus dieser brandgefäh­rlichen Lage darf kein regionaler Flächenbra­nd werden.“Beim Treffen der G7-Außenminis­ter auf Capri riefen die Vertreteri­nnen und Vertreter der sieben großen westlichen Industrien­ationen in einer gemeinsame­n Erklärung „alle Parteien in der Region und darüber hinaus“dazu auf, einen „positiven Beitrag“zur Deeskalati­on der Lage zu leisten. Italiens Außenminis­ter Antonio Tajani sagte: „Die G7 unterstütz­t die Sicherheit Israels, aber wir rufen alle Parteien dazu auf, eine Eskalation zu vermeiden.“

Scholz hatte die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu zuvor bereits um Zurückhalt­ung gebeten. „Für uns ist wichtig, dass dieser Moment jetzt auch für eine weitere Deeskalati­on genutzt wird und dass Israel diesen Erfolg auch nutzt, um gewisserma­ßen seine eigene Position in der ganzen Region zu stärken, und eben nicht mit einem eigenen massiven Angriff antwortet.“Regierungs­sprecher Steffen Hebestreit entgegnete auf die Frage, ob dem Iran ebenso ein Selbstvert­eidigungsr­echt zustehe wie Israel: „Ich glaube, Iran hat Israel angegriffe­n.“Gleichzeit­ig trat er dem Eindruck entgegen, die Bundesregi­erung messe in dem Konflikt mit zweierlei Maß. Die Regierung habe sich „massiv an die israelisch­e Seite gewandt“und auch dort vor einer Eskalation gewarnt. Das tue sie weiterhin.

Die EU hat erstmals Sanktionen gegen radikale israelisch­e Siedler im Westjordan­land verhängt. Die Mitgliedst­aaten beschlosse­n unter anderem Strafmaßna­hmen gegen vier Männer, denen Folter, Erniedrigu­ngen oder Verstöße gegen das Eigentumsr­echt vorgeworfe­n werden.

So nahe kommt der Terror der deutschen Politik selten. Vom Hotel Dan in Tel Aviv, in dem Joschka Fischer am 1. Juni 2001 abgestiege­n ist, sind es nur 500 Meter zur Diskothek Pascha, vor der ein palästinen­sischer Selbstmord­attentäter an diesem Abend 20 Israelis mit in den Tod reißt. Es ist einer der schwersten Anschläge seit Langem – und der deutsche Außenminis­ter spürt schnell, dass er jetzt nicht einfach nach Hause fliegen kann. Um eine weitere Eskalation zu verhindern, fährt Fischer daher nach Ramallah, zu Palästinen­serführer Yassir Arafat, und dann zurück nach Israel, zu Ministerpr­äsident Ariel Sharon. Arafat ringt er eine öffentlich­e Erklärung ab, die den Anschlag verurteilt, und Sharon die Zusage, Israelis und Palästinen­sern noch eine letzte Chance zu geben, nachdem sein Verteidigu­ngsministe­r schon angedroht hatte, das Westjordan­land „in Schutt und Asche“zu legen.

Er sei damals eher zufällig in die Rolle des Mittlers geraten, sagt Fischer später. „Es passierte einfach, ich habe mich nicht danach gedrängt.“Annalena Baerbock, die amtierende Außenminis­terin, dagegen drängt es. In dieser Woche war sie bereits zum siebten Mal seit dem Massaker vom 7. Oktober in Israel, eine Handlungsr­eisende in Krisendipl­omatie, wenngleich eine mit begrenzter Wirkung. Er schätze ihre Vorschläge und Ratschläge, sagt Regierungs­chef Benjamin Netanjahu zwar höflich. „Aber ich will ganz deutlich sein: Israel wird alles Nötige tun, um sich selbst zu verteidige­n.“

Mit ihrem grünen Parteifreu­nd Fischer gemeinsam ist Baerbock ein eher ambivalent­es Verhältnis zum jeweiligen israelisch­en Ministerpr­äsidenten. Anders als er bei Sharon aber findet sie bei Netanjahu kaum Gehör. Fischers Wort dagegen hatte Gewicht in Israel. 2005 verlieh ihm der Zentralrat der Juden den renommiert­en Leo-BaeckPreis und würdigte so seinen Einsatz für ein Ende des Terrors, für Frieden im Nahen Osten und seine „kritische, aber uneingesch­ränkte Solidaritä­t mit dem Staat Israel und seiner Bevölkerun­g.“

Auf Annalena Baerbock singt die jüdische Community keine solchen Hymnen, in Israel nicht und in Deutschlan­d auch nicht. Dass sie Netanjahu schon vor dem Abflug nach Tel Aviv gewarnt hat, eine Vergeltung­saktion für die iranischen Angriffe sehe das Völkerrech­t nicht vor, ist in Israel jedenfalls nicht gut angekommen: In der Sache wie im Stil ein grobes Foul.

Nach Informatio­nen der BildZeitun­g und eines israelisch­en Fernsehsen­ders soll es bei ihrem Gespräch mit dem Regierungs­chef sogar zu einem Eklat gekommen sein, als Baerbock die Lage im Gazastreif­en als „katastroph­al“bezeichnet habe. Darauf hätten ihre israelisch­en Gegenüber ihr Bilder von Märkten in Gaza gezeigt, auf denen jede Menge Obst, Gemüse und andere Lebensmitt­el zu sehen gewesen seien, sowie Bilder von munter im Meer vor Gaza badenden Palästinen­sern. Auf Baerbocks Einwand, er solle diese Fotos lieber nicht herumzeige­n, soll Netanjahu dann zornig entgegnet haben: „Wir sind nicht wie die Nazis.“Die nämlich hatten einst zu Propaganda­zwecken geschönte Bilder aus dem Warschauer Getto verbreitet.

Das Auswärtige Amt und die deutsche Botschaft in Tel Aviv weisen den Bericht zwar als irreführen­d und falsch zurück, mit jeder Reise aber wird die deutsche Außenminis­terin mehr zum Teil des Problems anstatt zum Teil der Lösung. Die Israelis unterstell­en ihr, zu kritisch mit Israel zu sein und zu nachsichti­g mit den Palästinen­sern. In pro-israelisch­en Chatgruppe­n im Internet machen gerade empörte Kommentare mit Bildern die Runde, auf denen sie Palästinen­serführer Mahmud Abbas in Ramallah lächelnd die Hand schüttelt – einem Mann, der in seiner Doktorarbe­it den Holocaust verharmlos­te, der heute an der Spitze einer korrupten Funktionär­sclique

An Gaza scheiden sich die Geister.

steht und seinem Volk seit 15 Jahren Neuwahlen verweigert. „Ich war mal ein großer Fan von Ihnen“, schreibt die bekannte Journalist­in Sahra Cohen-Fantl in einem offenen Brief an Baerbock. „Doch Sie sind zu einer der größten Enttäuschu­ngen geworden – für die Menschen im Iran wie auch für die Menschen in Israel.“Und in der Jüdischen Allgemeine­n empört sich der in Israel geborene Historiker Rafael Seligmann, dass die deutsche Außenpolit­ik in Gestalt ihrer Ministerin von Israel zwar regelmäßig Zurückhalt­ung einfordere, über das legitime Recht des Landes auf Selbstvert­eidigung dagegen kein Wort verliere.

Joschka Fischer, der in jungen Jahren selbst große Sympathien für die palästinen­sische Bewegung hatte, versteht die Israelis heute deutlich besser als seine Parteifreu­ndin Baerbock mit ihren immer neuen Aufrufen zur Mäßigung. „Israel kann sich Schwäche nicht erlauben“, hat Fischer schon im Dezember gewarnt, lange vor dem Angriff des Iran. „Sonst wird es nicht mehr existieren.“

 ?? Foto: Patrick Pleul, dpa ?? „Europas Stimme hörbar machen“– darüber diskutiert­en im grünen Wahlkampf 2021 Joschka Fischer und Annalena Baerbock. Heute lassen sich Arbeit und Einfluss des ehemaligen Außenminis­ters und der heutigen Außenminis­terin bilanziere­n.
Foto: Patrick Pleul, dpa „Europas Stimme hörbar machen“– darüber diskutiert­en im grünen Wahlkampf 2021 Joschka Fischer und Annalena Baerbock. Heute lassen sich Arbeit und Einfluss des ehemaligen Außenminis­ters und der heutigen Außenminis­terin bilanziere­n.

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