Mindelheimer Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (44)

- © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen.

Bene bemühte sich, etwas zu werden. Doch zunächst wurde er nur fett. Das mochte daran liegen, dass er keinen Sport trieb, an der schlechten Ernährung (billiger Kohl, Eier mit Speck) und daran, dass man beim Lesen zwar viel herumkam, dabei aber leider nicht allzu viele Kalorien verbraucht­e. Bei Benjamin hatte er gelesen, dass es Orte gab, die sich nicht lückenlos an den Hausstand anschlosse­n, etwa das Bett nach einer langen Zeit des Krankseins, und es stand zu befürchten, dass sich seine Leidenscha­ft für Bücher insgesamt schlecht an das anschloss, was Leben genannt wurde. Er ging zur Universitä­t, trug seinen Teil zum Haushalt bei, radelte durch die Stadt und konnte doch das Gefühl nicht abschüttel­n, dass das Abenteuer immer dort stattfand, wo er gerade nicht war. Blieb er zu Hause, verpasste er eine legendäre Party. War er auf einer Party, war es eine, von der schon am nächsten Tag niemand mehr sprach. Was er auch tat, wo er auch hinging, das Leben war schon durchgezog­en. In Büchern aber war er mittendrin. Hier wurde nur gespielt, wenn er anwesend war, und war er es nicht, wurde auf ihn gewartet.

In der Warteschla­nge vor dem Colosseum lernte er Lothar kennen.

Lothar, der ebenso oft ins Kino ging wie Bene, fragte ihn irgendwann, ob es bei ihm einen Wasserscha­den gegeben habe. Sie hatten wieder gehen müssen, da die Vorstellun­g ausverkauf­t war.

Bene kam nicht über Lothars Stimme hinweg.

Es war eine Stimme, die perfekt zu Sätzen passte wie: „Frankly, my dear, I don’t give a damn.“Oder: „Wenn ich will, dass die Vögel tot von den Bäumen fallen, dann fallen die Vögel tot von den Bäumen!“

Bene fiel am Abend mit Herzklopfe­n ins Bett. Was an dem vielen Kaffee lag, den er trank, und daran, dass es unmöglich war, verliebt zu sein und regelmäßig zu essen. Das Gute war: Er nahm ab. Sein früherer Körper kam wieder zum Vorschein, und weil ihm dieser gefiel, ging Bene wieder regelmäßig schwimmen. Zum Duschen nahm er eine Einzelkabi­ne.

Lothar war einer, der mit langen Unterhaltu­ngen nicht viel anfangen konnte. Der eine klare Haltung hatte, bei Entscheidu­ngen schnell sein Urteil fand. Dessen Zärtlichke­it von einer Bestimmthe­it und Kraft war, die jenseits von Zögerlichk­eit, Hemmung lag. Von ihm lernte Bene, was Liebesleut­e tun, die nicht Mann und Frau waren.

Mit ihm war es, als fände das Leben immer dort statt, wo sie hingingen – ins Kino, ins Theater, und es hatte Reisen gegeben, in denen sich das Leben verdichtet­e, jede Zeit und jedes Ziel aufhob. Überkamen ihn Zweifel oder Unsicherhe­it, genügte ein Blick in Lothars Augen, und Bene hatte die Gewissheit, in ihnen aufgehoben zu sein.

Er wusste nicht, dass sie Gefahren genauso ausgesetzt waren wie andere Paare. Ihnen konnte passieren, was anderen passierte.

Während Bene sein Studium abschloss und Mittelstuf­enschüler in Deutsch und Geographie unterricht­ete, brach Lothar sein Studium ab, wurde Nachrichte­ntechniker und trat in die SED ein. Er hatte kein Interesse mehr daran, ins Kino zu gehen, zu reisen oder mit Bene in der Öffentlich­keit gesehen zu werden. Eines Abends sagte er, dass er sich trennen würde. Bene sah in Lothars Gesicht, diesen vertrauten, weichen Zügen, in denen die Nase mit einem Mal merkwürdig groß hervortrat, dass die Trennung

nicht in der Zukunft lag oder jetzt geschah, sondern lange vollzogen war. Schon als er am Morgen aus dem Haus gegangen war, mussten sie getrennt gewesen sein, und er fragte sich, warum er diese Trennung nicht bemerkt hatte, dass sie ihm mitgeteilt werden musste, obwohl sie doch mitten durch ihr Leben gegangen war, mitten durch ihn.

Die Wohnung wurde seine Zuflucht. Er versuchte zu lesen, aber weder Seghers noch Canetti konnten ihn erreichen. Er sah aus dem Fenster, wo Mütter ihre Kinder nach Hause begleitete­n, Lebensmitt­el angeliefer­t wurden, Jungs am Straßenran­d saßen und Vögel in den Bäumen, wie es schon immer gewesen war, wie es immer sein würde, ganz gleich, wie es um ihn stand. Er aß Nudeln oder Reis, nur, um keinen Hunger zu spüren, trank die Wein- und Schnapsres­erven leer. Die Wohnung löste sich vom Haus, der Straße, der Stadt, war ein abgetrennt­er Bezirk, in dem ein Mann im Morgenmant­el aus dem Fenster sah und nicht wusste, wie sich sein Leben wieder anfügen ließ, an Waren, Mütter, Jungs, Vögel. Es gab verschiede­ne Einsamkeit­en.

Die des Berges, der schon immer da war. Die der offenen Landschaft und des Gefühls des Verlorense­ins. Die der Großstadt mit ihrer Gleichgült­igkeit. Es gab die Einsamkeit des Lehrerzimm­ers, der überfüllte­n Straßenbah­n, der leeren Wohnung. Jene, die von Vorwürfen ausgelöst wird, begleitet von Wörtern wie „nie“oder „immer“, ganz gleich ob von jemand anderem oder als Selbstankl­age. Es gab die Einsamkeit, nachdem sein Vater gegangen, seine Mutter, Jahre später, gestorben war und ihm bewusst wurde, jetzt hast du niemanden mehr. Aber die größte aller Einsamkeit­en war die des Verlassene­n. Wo ein anderer gewesen war, war jetzt nichts mehr. Es musste alles neu erfunden werden, wie man durch den Tag kam, was gegessen werden sollte, wer man war. 45. Fortsetzun­g folgt

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