Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (44)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen.
Bene bemühte sich, etwas zu werden. Doch zunächst wurde er nur fett. Das mochte daran liegen, dass er keinen Sport trieb, an der schlechten Ernährung (billiger Kohl, Eier mit Speck) und daran, dass man beim Lesen zwar viel herumkam, dabei aber leider nicht allzu viele Kalorien verbrauchte. Bei Benjamin hatte er gelesen, dass es Orte gab, die sich nicht lückenlos an den Hausstand anschlossen, etwa das Bett nach einer langen Zeit des Krankseins, und es stand zu befürchten, dass sich seine Leidenschaft für Bücher insgesamt schlecht an das anschloss, was Leben genannt wurde. Er ging zur Universität, trug seinen Teil zum Haushalt bei, radelte durch die Stadt und konnte doch das Gefühl nicht abschütteln, dass das Abenteuer immer dort stattfand, wo er gerade nicht war. Blieb er zu Hause, verpasste er eine legendäre Party. War er auf einer Party, war es eine, von der schon am nächsten Tag niemand mehr sprach. Was er auch tat, wo er auch hinging, das Leben war schon durchgezogen. In Büchern aber war er mittendrin. Hier wurde nur gespielt, wenn er anwesend war, und war er es nicht, wurde auf ihn gewartet.
In der Warteschlange vor dem Colosseum lernte er Lothar kennen.
Lothar, der ebenso oft ins Kino ging wie Bene, fragte ihn irgendwann, ob es bei ihm einen Wasserschaden gegeben habe. Sie hatten wieder gehen müssen, da die Vorstellung ausverkauft war.
Bene kam nicht über Lothars Stimme hinweg.
Es war eine Stimme, die perfekt zu Sätzen passte wie: „Frankly, my dear, I don’t give a damn.“Oder: „Wenn ich will, dass die Vögel tot von den Bäumen fallen, dann fallen die Vögel tot von den Bäumen!“
Bene fiel am Abend mit Herzklopfen ins Bett. Was an dem vielen Kaffee lag, den er trank, und daran, dass es unmöglich war, verliebt zu sein und regelmäßig zu essen. Das Gute war: Er nahm ab. Sein früherer Körper kam wieder zum Vorschein, und weil ihm dieser gefiel, ging Bene wieder regelmäßig schwimmen. Zum Duschen nahm er eine Einzelkabine.
Lothar war einer, der mit langen Unterhaltungen nicht viel anfangen konnte. Der eine klare Haltung hatte, bei Entscheidungen schnell sein Urteil fand. Dessen Zärtlichkeit von einer Bestimmtheit und Kraft war, die jenseits von Zögerlichkeit, Hemmung lag. Von ihm lernte Bene, was Liebesleute tun, die nicht Mann und Frau waren.
Mit ihm war es, als fände das Leben immer dort statt, wo sie hingingen – ins Kino, ins Theater, und es hatte Reisen gegeben, in denen sich das Leben verdichtete, jede Zeit und jedes Ziel aufhob. Überkamen ihn Zweifel oder Unsicherheit, genügte ein Blick in Lothars Augen, und Bene hatte die Gewissheit, in ihnen aufgehoben zu sein.
Er wusste nicht, dass sie Gefahren genauso ausgesetzt waren wie andere Paare. Ihnen konnte passieren, was anderen passierte.
Während Bene sein Studium abschloss und Mittelstufenschüler in Deutsch und Geographie unterrichtete, brach Lothar sein Studium ab, wurde Nachrichtentechniker und trat in die SED ein. Er hatte kein Interesse mehr daran, ins Kino zu gehen, zu reisen oder mit Bene in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Eines Abends sagte er, dass er sich trennen würde. Bene sah in Lothars Gesicht, diesen vertrauten, weichen Zügen, in denen die Nase mit einem Mal merkwürdig groß hervortrat, dass die Trennung
nicht in der Zukunft lag oder jetzt geschah, sondern lange vollzogen war. Schon als er am Morgen aus dem Haus gegangen war, mussten sie getrennt gewesen sein, und er fragte sich, warum er diese Trennung nicht bemerkt hatte, dass sie ihm mitgeteilt werden musste, obwohl sie doch mitten durch ihr Leben gegangen war, mitten durch ihn.
Die Wohnung wurde seine Zuflucht. Er versuchte zu lesen, aber weder Seghers noch Canetti konnten ihn erreichen. Er sah aus dem Fenster, wo Mütter ihre Kinder nach Hause begleiteten, Lebensmittel angeliefert wurden, Jungs am Straßenrand saßen und Vögel in den Bäumen, wie es schon immer gewesen war, wie es immer sein würde, ganz gleich, wie es um ihn stand. Er aß Nudeln oder Reis, nur, um keinen Hunger zu spüren, trank die Wein- und Schnapsreserven leer. Die Wohnung löste sich vom Haus, der Straße, der Stadt, war ein abgetrennter Bezirk, in dem ein Mann im Morgenmantel aus dem Fenster sah und nicht wusste, wie sich sein Leben wieder anfügen ließ, an Waren, Mütter, Jungs, Vögel. Es gab verschiedene Einsamkeiten.
Die des Berges, der schon immer da war. Die der offenen Landschaft und des Gefühls des Verlorenseins. Die der Großstadt mit ihrer Gleichgültigkeit. Es gab die Einsamkeit des Lehrerzimmers, der überfüllten Straßenbahn, der leeren Wohnung. Jene, die von Vorwürfen ausgelöst wird, begleitet von Wörtern wie „nie“oder „immer“, ganz gleich ob von jemand anderem oder als Selbstanklage. Es gab die Einsamkeit, nachdem sein Vater gegangen, seine Mutter, Jahre später, gestorben war und ihm bewusst wurde, jetzt hast du niemanden mehr. Aber die größte aller Einsamkeiten war die des Verlassenen. Wo ein anderer gewesen war, war jetzt nichts mehr. Es musste alles neu erfunden werden, wie man durch den Tag kam, was gegessen werden sollte, wer man war. 45. Fortsetzung folgt