Mittelschwaebische Nachrichten
Auf dem Wasser wandern
Grüne Weidentunnel und offene Auenlandschaften, mittelalterliche Burgen und Schlösser: Im Kanu lässt sich Deutschlands Mitte aus ungewohnter Perspektive kennenlernen
Uralte Weiden strecken ihre knorrigen Äste aus, als wollten sie den Durchlass versperren. Manchmal muss man sich tief ducken, um unter ihnen durchtreiben zu können, sonst würden sie die Wasserwanderer aus den Kanus werfen. Das Laub bildet einen grünen Tunnel, den das Sonnenlicht nur gefiltert durchdringt. Erlen reihen sich am Ufer, dahinter ein paar Ulmen und Eschen: An manchen Stellen des Flusses haben sich noch Altarme und Auwälder mit den typischen Baumarten erhalten. Mit hellen Pfiffen begleitet einen hier ein fliegender Edelstein: Den blaurot gefiederten Eisvogel bekommt man anderswo nur mit Glück zu Gesicht. Doch wo die Natur noch Natur sein darf, ist die Werra wildschön wie ein Dschungelfluss.
Was nach der nächsten Kurve kommt? Von der Werra lässt sich selbst Andreas Pfannstiel immer wieder aufs Neue überraschen. Zwar kennt er den Fluss schon seit seiner Jugend von Slalom-Übungen mit dem Kanuverein, doch die Werra hat, obwohl sie vielerorts ausgebaut und begradigt wurde, ihren naturnahen Charakter bewahrt. „Mal taucht ein Fischotter vor einem auf, mal muss man einen umgestürzten Baum umschiffen: Eine Tour auf dem Wasser ist hier jedes Mal ein Abenteuer.“
300 Kilometer schlängelt sich die Werra durch Thüringen und Hessen, um sich schließlich in Hannoversch Münden mit der Fulda zur Weser zu vereinigen. Die Strömung ist so gemütlich, dass auch Anfänger auf dem Fluss paddeln können. Beliebt sind die offenen und kippstabilen Kanadier: Hier hat nicht nur eine vierköpfige Familie Platz, es passen auch etliche Kilogramm Ausrüstung und Gepäck hinein. Wer noch nie gepaddelt hat, bucht zunächst am besten eine geführte Tour. „Doch die Paddelschläge, die hier wirklich wichtig sind, lernt man schnell“, meint Andreas Pfannstiel.
Vom Städtchen Meiningen, wo die meisten Kanuten starten, dauert eine Tour bis zum Zusammenfluss mindestens eine Woche. In ein paar Tagen weniger ist die beliebte Panoramastrecke von Meiningen bis Treffurt zu schaffen, wo der Fluss oft noch ursprünglich wirkt. „Zu DDR-Zeiten war die Werra ökologisch tot, weil das Abwasser ungeklärt eingeleitet wurde. Heute hat der Fluss nahezu wieder Badewasser-Qualität“, sagt Thomas Wey vom Bund für Umwelt und Naturschutz. Mit dessen Projekt „Lebendige Werra“soll die Vielfalt der Lebensräume am und im Fluss erhalten und erweitert werden.
Bei Lauchröden wurden auf einem zehn Kilometer langen Abschnitt die Ufer aufgeweitet, sodass die Werra hier wieder mehr Platz hat. Das Hauptproblem bleibt die Versalzung des Flusses: „Die KaliIndustrie darf ihre Lauge weiterhin in die Werra pumpen. Fischen macht das Salz das Leben schwer, doch für Menschen ist die Sole glücklicherweise ungefährlich.“
Am Wochenende herrscht auf der Werra reger Kanu-Betrieb, doch unter der Woche, wenn nur wenige Paddler unterwegs sind, hat man den Fluss streckenweise oft für sich allein. Am Bootsanleger des Dörfchens Hörschel, wo sich Reisende mit Thüringer Hausmannskost für die Weiterfahrt stärken, ist viel los. Dass sich vom Frühlingsanfang bis in den Herbst hinein Tag für Tag dutzende von Wanderern in dem winzigen Weiler einfinden, ist kein Zufall: Am Ufer der Werra be- ginnt hier der berühmte RennsteigWanderweg. Manche machen hier auch die letzten Schritte ihrer Tour: Am Holzpfahl mit den Wegweisern für die Route haben Wanderer viele ausgetretene und ausrangierte Sportschuhe als Andenken an ihren langen Marsch zurückgelassen.
Schon seit dem 19. Jahrhundert gibt es in Hörschel die Tradition, dass man als Wanderer seinen Stock für einen Moment ins Wasser der Werra taucht und einen kleinen Kiesel mit auf die Reise nimmt. Genau 169 Kilometer und 300 Meter später, zum Abschluss der Tour über den Rennsteig, wird der Stein dann im Ort Blankenstein in die Saale geworfen. „Deswegen kommen wir auf der Werra inzwischen auch bei niedrigerem Wasserstand locker über die Kiesbänke“, grinst Stefan Roth. Er betreibt in Creuzburg und Treffurt zwei Kanustationen. Viele Wasserwanderer und Radler, die auf dem Werratal-Radweg unterwegs sind, übernachten auch auf seinem kleinen Campingplatz am Fluss.
Stefan Roths Hausstrecke bei Creuzburg entpuppt sich als einer der schönsten Abschnitte der Paddeltour auf der Werra: Harmonisch vereint sich hier die Kulturlandschaft Thüringens mit der Wildheit der unberührten Natur. Zunächst passieren Kanuten eine annähernd acht Jahrhunderte alte, in sieben imposanten Bögen gebaute Natursteinbrücke. Bereits im Jahr 1223 ließ sie ein Thüringer Landgraf aus Sand- und Kalksteinblöcken errichten, um den auf dem Handelsweg „Via Regia“reisenden Kaufleuten einen sicheren Übergang über die Werra zu ermöglichen. Ursprünglich war sie durch einen Wehrturm gesichert und mit der Stadtmauer Creuzburgs verbunden. Die Befestigungen sind inzwischen Geschichte, doch die für den himmlischen Schutz der Brücke und der Reisenden zuständige Liboriuskapelle hat den Wandel der Zeiten überdauert.
Ein paar hundert Meter nach dem Kulturdenkmal übernimmt die Natur die Regie. Tief hat sich die Werra hier in ein Muschelkalkmassiv eingegraben und ein schmales Tal mit Steilhängen und weiß leuchtenden Felsen geformt. Wer sein Kanu am Ufer festmacht, kann auf die „Ebenauer Köpfe“hinaufsteigen. Früher wurde das Areal hoch über dem Fluss noch zum Weinanbau genutzt. Heute sind die Felsen mit den Wacholderbüschen und dem kargen, der Sonne ausgesetzten Magerrasen ein wichtiges Rückzugsgebiet für seltene Tier- und Pflanzenarten.
An den Hängen des Werratals reiht sich ein Schutzgebiet an das andere. „Wir haben hier nicht nur äußerst rare Heuschrecken gefunden, sondern auch 35 Arten von Schmetterlingen, zum Beispiel Schwalbenschwanz und Perlgrasfalter“, erzählt Werra-Experte Thomas Wey vom Bund für Umwelt und Naturschutz. In einem Naturführer hat er noch mehr Informationen über die Lebensräume am und im Fluss zusammengetragen. Das Rote Waldvöglein ist hier auch heimisch, doch man muss schon wissen, wo man es suchen muss. Nämlich auf dem Boden statt im Blau des Himmels: Es ist eine der vielen geschützten Orchideenarten. Im Aufwind über den Steilhängen kreist der Rotmilan und auf den Felsvorsprüngen brüten der Kolkrabe und die größte heimische Eule, der Uhu.
Wer anschließend wieder sportlich mit dem Paddel ins Wasser sticht oder sich als entspanntere Alternative von der Strömung treiben lässt, reist in der Werraschleife zwischen Frankenroda und Falken ebenfalls durch artenreiches Terrain. Es zwitschert im Schilf, auf den Feldern entlang des Flusses und im angrenzenden Wald: Meisen und Lerchen, aber auch Sumpf- und Teichrohrsänger. Auf der Werra tummeln sich allerlei Enten, Zwergtaucher sowie ein turtelndes Höckerschwan-Pärchen.
Weiter flussabwärts wartet als nächstes kulturelles Highlight die Fachwerkstadt Treffurt mit ihrem Wahrzeichen, der von weitem sichtbaren Burg Normannstein. Vorher treibt man mit der gemütlichen Strömung der Werra aber noch durch eine Engstelle. Über einer gut 60 Meter hohen Felswand erheben sich die Zinnen des Heldrasteins, den die Thüringer Lokalpatrioten zum „König des Werratals“gekrönt haben. Wer die Stufen zum Aussichtsturm hinaufkraxelt, kann das gut nachvollziehen: Der Blick auf den Harz und zur Rhön ist wirklich königlich.
Sanft genug für Anfänger – und doch ein Abenteuer Hoch oben grüßen die Könige des Werratals