Mittelschwaebische Nachrichten
Sehnerv unter Druck
Der Grüne Star, medizinisch Glaukom genannt, ist hierzulande die zweithäufigste Ursache für eine Erblindung. Können Früherkennungsuntersuchungen helfen?
Mainz Von Laserbehandlungen über neue Medikamente bis hin zu Implantaten: In der Augenheilkunde ist heute vieles möglich. Doch wer einmal wegen eines Glaukoms erblindet ist, kann nach wie vor nicht geheilt werden. Nach Angaben der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) trifft dieses Schicksal jedes Jahr rund 1000 Bundesbürger. Damit sei die Augenkrankheit auch hierzulande die zweithäufigste Ursache für das Erblinden. Durch Früherkennungsuntersuchungen ließe sich diese Zahl senken, meint die DOG. Da das Risiko mit dem Alter steige, empfiehlt sie allen Menschen ab 40, sich untersuchen zu lassen. Die Krankenkassen stellen den Nutzen dieser Selbstzahler-Leistung dagegen infrage.
Das Glaukom, auch „Grüner Star“genannt, ist eine fortschreitende Augenerkrankung, die den Sehnerv schädigt. Grund dafür ist, dass sich in den Augenkammern zwischen Hornhaut und Linse zu viel Kammerwasser ansammelt und auf den Sehnerv drückt. Hält er dieser Belastung nicht stand, werden nach und nach Nervenfaserzellen zerstört. Dadurch wird das Gesichtsfeld immer weiter eingeschränkt, bis die Patienten nur noch geradeaus sehen können („Tunnelblick“). Weil das Gehirn den Schaden zunächst kompensiert, fallen die Probleme den Betroffenen meist erst auf, wenn der Sehnerv schon stark geschädigt ist. Daher gehen viele Patienten zu spät zum Arzt, wie Professor Norbert Pfeiffer, Direktor der Universitätsaugenklinik Mainz und DOG-Präsidiumsmitglied, berichtet. „Die Funktionen, die verloren gegangen sind, kommen nie zurück“, sagt er. „Leider erlebe ich immer wieder tragische Fälle.“
Um genaue Angaben zu den Fallzahlen in Deutschland machen zu können, werden derzeit in der Region um Mainz 15000 Menschen repräsentativ untersucht. Im kommenden Jahr soll die Auswertung der Studie vorliegen, wie Pfeiffer berichtet. Schon jetzt könne man sagen, dass sich die bisherige Hochrechnung, wonach ein bis zwei Prozent aller Bundesbürger an einem Glaukom leiden, bestätigt habe. „Außerdem sehen wir auch, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist“, sagt der Glaukom-Experte. „Rund 50 Prozent der Betroffenen wissen nichts von ihrer Erkrankung.“Deshalb wirbt Pfeiffer für die Früherkennungsuntersuchung. „Es gilt das Motto: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“, betont er. Die Krankheit lässt sich zwar nicht heilen, aber zumindest aufhalten. „Der größte Schaden entsteht, bevor die Diagnose gestellt wird.“
Lange Zeit konzentrierte sich die
Vorsorge auf die Messung des Augeninnendrucks. War der Wert normal, gab man dem Patienten Entwarnung. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein erhöhter Druck nur ein Risikofaktor ist. Nach Angaben des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) kommt es lediglich bei zehn Prozent aller Menschen mit erhöhtem Augeninnendruck innerhalb von fünf Jahren zu Sehverlusten. Außerdem gibt es auch Patienten, die trotz eines normalen Drucks erkranken. „Früher hat man das Normaldruck-Glaukom für eine Seltenheit gehalten“, sagt Pfeiffer. Inzwischen geht man da-
von aus, dass bei etwa einem Drittel der erkrankten Patienten der Druck noch im Normbereich ist. Daher hat dieser Wert für sich allein nur eine eingeschränkte Aussagekraft. „Wichtiger ist es, den Sehnerv zu untersuchen“, betont der Augenarzt. Beides – Druckmessung und Begutachtung des Sehnervs per Augenspiegelung – gehören daher zu einer korrekt durchgeführten Früherkennungsuntersuchung. Die Untersuchungen sind laut IGWiG schnell, risikoarm und schmerzfrei. Allerdings muss man die Leistung, die um die 20 bis 40 Euro kostet, in der Regel privat bezahlen, wenn es um eine reine Vorsorge geht.
Wer nur einen erhöhten Augeninnendruck hat, aber einen intakten Sehnerv, muss Pfeiffer zufolge nicht gleich behandelt werden. Denn bei vielen Menschen „toleriert“der Nerv den erhöhten Druck. „Da reichen normalerweise regelmäßige Kontrollen“, erklärt er. Anders ist das, wenn Familienangehörige bereits ein Glaukom haben: „Wenn Verwandte ersten Grades erkrankt sind, steigt das Risiko um das Zehnfache. In solchen Fällen sollte man eher therapieren.“Überhaupt rät Pfeiffer Menschen mit besonderen Risikofaktoren wie familiäre Belastung, Kurzsichtigkeit und längerfristige Einnahme von Cortison, sich schon vor dem 40. Lebensjahr untersuchen zu lassen. Wer älter ist, sollte ohnehin gelegentlich zur Glaukom-Vorsorge gehen, rät der Experte.
Bei der Therapie geht es darum, den Augeninnendruck durch Medikamente – in Form von Augentropfen – zu senken. Werden die Mittel nicht vertragen oder sind sie wirkungslos, stehen operative Verfahren zur Verfügung. Auch Patienten mit Normaldruckglaukom profitieren in der Regel von einer Drucksenkung. Offenbar ist es nämlich individuell verschieden, wie viel Druck ein Sehnerv verträgt. „Was als normaler Wert bezeichnet wird, ist nur ein statistisches Maß“, sagt Pfeiffer. Auch das macht deutlich: Das Thema Glaukom ist extrem komplex; allgemeingültige Aussagen sind schwierig.
Der IGeL-Monitor, ein Informationsportal des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, bewertet die Früherkennungsuntersuchung als „tendenziell negativ“. Es sei wissenschaftlich nicht belegt, dass sich dadurch Glaukome oder die Erblindung durch Glaukome verhindern ließen. Zudem sei unklar, wie gut Glaukome durch die gängigen Verfahren überhaupt erkannt würden. Die Datenlage sei insgesamt dürftig. „Wir schließen auch nicht aus, dass es einen Nutzen gibt“, sagt Projektleiter Dr. Christian Weymayr. So könne es durchaus sein, dass Risikogruppen davon profitieren. Aber was bedeutet das nun für den Patienten? „Wir geben keine Ratschläge, sondern wollen aufklären“,
Entscheiden muss jeder selbst
betont Weymayr. Auf dieser Basis sollten Patienten selbst entscheiden, ob sie sich untersuchen ließen. Dabei soll ihnen auch klar sein, dass sie durch die Untersuchungsergebnisse möglicherweise unnötig beunruhigt werden. „Ich kenne Leute, die wegen eines erhöhten Augeninnendrucks alle drei Monate zur Kontrolle einbestellt werden und ständig tropfen müssen.“Ist das wirklich nötig – oder eine Übertherapie? Genau das, gibt Weymayr zu bedenken, weiß man im Einzelfall nicht.
Pfeiffer, der immer wieder Patienten sieht, denen man kaum noch helfen kann, hat eine andere Perspektive. „Man muss die Dinge gegeneinander aufrechnen“, sagt er. Natürlich sei ein falscher Alarm belastend. „Das Schlimmste ist aber, wenn ein Patient, der auf einem Auge blind und auf dem anderen halbblind ist, fragt: Warum hat mir davon denn keiner etwas gesagt?“Er fügt hinzu: „Leider erlebe ich solche Situationen immer wieder.“