Mittelschwaebische Nachrichten
Sitzen geblieben
Fast alle Wege führen nach Süden, in den „sonnigen Süden“, um die stabgereimte Erfolgsformel aufzugreifen. Der Süden ist gleichbedeutend mit Licht und Liebe und Wärme, mit dem Capri-Schmelz, etwas abstrakter: der Sehnsucht nach der Ferne.
Doch was wird bei Wolf Wondratschek aus dem Aufbruch? Der Stillstand. Das hat politische Gründe. Denn das Gedicht „In den Autos“aus den 1970er-Jahren wird immer wieder zitiert, wenn vom Scheitern der 68er-Bewegung die Rede ist. Wondratschek, Jahrgang 1943, stand in jenen Jahren eine Zeit lang dem SDS nahe, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund.
Das Gedicht blickt zurück. Es bezieht ins „Wir“auch den Dichter ein. Die jungen Rebellen von einst sind auf ihren Träumen sitzen geblieben. Aus Unruhe, Aufruhr und Mobilität sind sie in den Ist-Zustand zurückgefallen, Untätigkeit zeichnet sie aus: „waren ruhig“bzw. „hockten“. Die Bewegung ist gleichsam eingefroren, sie kreist an Ort und Stelle in sich selbst. Immerhin möglich, dass beim Drehen am Radio eine Musiknummer erklingt, die den Traum von Freiheit vorspielt.
Es fällt auf, dass in Versen der 70er-Jahre der Alltag dermaßen überhandnimmt, dass die Aufbrüche ausfallen. Ein Gedicht von Ralf Thenior beginnt so: „Einfach nur da sein, /im Korbsessel zu sitzen...“Und Jürgen Theobaldy intoniert nicht ohne (Selbst-)Ironie: „Es ist beinahe poetisch/mit dir im Rialto zu sitzen...“Der berühmte Italiener in München-Schwabing wird als Ersatz für Italien besungen. So schnurrt die ersehnte Ferne zur bequemen Nähe zusammen.
Wondratschek fasst die geplatzten Utopien ins Paradox. In den durch Wiederholung („einige“) und Parallelismen geprägten Binnenstrophen steht die „Einsamkeit“gegen die „endgültigen Entschlüsse“, die private Liebe gegen die Anforderungen der Gesellschaft, die Sonne gegen die Nacht, der Traum gegen das Erwachen, die „toten Filmstars“gegen das Leben. Alle Auswege führen in die Sackgasse, ob nun auf die Radikalisierung der Studentenbewegung angespielt wird (Strophe 2), auf die abgehobenen Esoteriker (3), den Rückzug in die Innerlichkeit (4), die Drogenszene (5), die ruhmreiche Erstarrung in der Kulturszene (6) oder den tödlichen revolutionären Kampf (7).
Zugegeben, der Dichter bleibt vager, als es diese zugespitzten „Erklärungen“suggerieren mögen, aber durch die identische Klammer in Strophe 1 und 8 setzt er quasi sein ganzes Gedicht fest. Über allem ist Resignation, souverän vorgetragen in einem den Jargon umkreisenden, spöttischen Ton. Gleichwohl schwingt Wehmut mit ob der verpassten Chancen und ungestillten Sehnsüchte.