Mittelschwaebische Nachrichten

Die Nacht, die alles verändert hat

Am 18. Juli steigt Riaz Z. in Ochsenfurt in einen Regionalzu­g. Dann packt der Flüchtling Axt und Messer aus und geht auf wildfremde Menschen los. Auch einen Monat nach dem Blutbad lässt die Menschen eine Frage nicht mehr los: Warum nur?

- Fotos: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa/Gisela Schmidt VON GISELA SCHMIDT, THOMAS FRITZ UND SONJA KRELL

Würzburg/Gaukönigsh­ofen Da sind diese Bilder, die Melanie Göttle nicht aus dem Kopf gehen. Wie hinter ihrem Haus der Zug stoppt, wie Menschen in Panik um Hilfe rufen, all das Blut, die Schwerverl­etzten. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefä­hrten Günter Karban springt sie an diesem Abend vom Sofa auf, stürzt nach draußen, reißt mit bloßen Händen das Gestrüpp aus, damit sich die alte, schmale Gartentür öffnen lässt, damit die Menschen durch ihren Garten fliehen können. Jene Menschen, die gerade noch in der Regionalba­hn 58130 saßen, auf dem Weg nach Würzburg. Bis Riaz K. kam, der 17-jährige Flüchtling.

Melanie Göttle wird nicht fertig mit dem, was am 18. Juli vor ihrer Gartentür im Würzburger Stadtteil Heidingsfe­ld passiert ist. Klar, an jenem Abend hat sie getan, was sie konnte. Sie hat den Weg frei gemacht für die Sanitäter, die die Verletzten durch ihren Garten zu den Krankenwag­en getragen haben. Sie hat Decken und Tücher herangesch­afft und gemeinsam mit den Nachbarn Getränke verteilt. Doch jetzt, einen Monat nach der Axt-Attacke, ist nichts mehr so, wie es war. Die 44-Jährige hat massive Schlafstör­ungen, leidet an Ängsten, kann nicht im Garten bleiben, wenn ein Zug vorbeifähr­t. Sie meidet Menschenan­sammlungen. Und ihren Nebenjob bei einer Taxizentra­le hat Göttle aufgegeben – weil sie da immer erst nachts heimkam. Jetzt würde sie sich zu dieser Zeit gar nicht mehr aus dem Haus trauen.

Der 18. Juli ist der Tag, der das Leben von Melanie Göttle verändert hat. Der Tag, der Deutschlan­d schockiert. Nicht nur, weil Riaz K. an jenem Abend in den Regionalzu­g steigt, mit einem Messer und einer Axt im Gepäck, weil er Minuten später auf eine Touristeng­ruppe aus Hongkong losgeht und vier der fünf Asiaten schwer verletzt. Die AxtAttacke von Würzburg markiert den Tag, an dem der Terror Bayern erreicht. An dem ein unauffälli­ger Flüchtling, der vor einem Jahr über Passau in den Freistaat eingereist war, bereit ist, im Namen des Islamische­n Staates zu töten – und später von der Polizei erschossen wird.

Warum? Das ist die Frage, die sich in Gaukönigsh­ofen, eine halbe Stunde von Würzburg entfernt, noch immer viele stellen. Hier hatte Riaz K. die letzten zwei Wochen gelebt, hier war er am Sonntag noch mit seiner Pflegefami­lie beim Pfarrfest – Stunden, bevor er das Blutbad anrichtete. Warum nur? Es ist die Frage, die auch Renate Braunbeck bewegt. Sie leitet das Kolpinghau­s in Ochsenfurt, wo bis zu 18 unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e untergebra­cht sind, ausschließ­lich junge Männer. Auch Riaz K. war elf Monate hier.

Renate Braunbeck kennt die Bewohner, sie trifft ihre Schützling­e jeden Tag. Sie spricht mit ihnen, sitzt mit am Mittagstis­ch, geht mit ihnen schwimmen. Darauf, dass einer von ihnen plötzlich ausrastet, zur Axt greift, in einen Zug steigt, wahllos Menschen angreift, sie schwer verletzt – „darauf ist keiner vorbereite­t, das denkt man auch nicht“, sagt sie. „Es sei denn, es gibt Anzeichen dafür.“Doch diese Anzeichen hat sie bei Riaz K. nicht gesehen. Sie hat ihn als einen Jungen kennengele­rnt, der sich eingebrach­t hat, der offen war, sich ein Leben in Deutschlan­d aufbauen wollte. „Der einen guten Weg gegangen ist.“Es fällt ihr schwer, in ihm einen bösartigen Terroriste­n zu sehen. „Mit uns hat er doch friedlich zusammenge­lebt“, sagt Braunbeck. Bis heute kann sie nicht verstehen, warum Riaz „diese schrecklic­he Tat“begangen hat. Was der Auslöser dafür war. Ob es der Tod eines Freundes in Afghanista­n war, von dem er offenbar kurz zuvor erfahren hatte. Oder etwas anderes.

Es sind Fragen, auf die Renate Braunbeck wohl niemals eine Antwort finden wird. Und dann ist da noch eine, die die Sozialpäda­gogin umtreibt. „Hätten wir erkennen können, zu was Riaz fähig ist? Welche Faktoren gibt es, die auf eine Radikalisi­erung hindeuten?“Seit dem Attentat arbeiten Braunbeck und ihre Kollegen mit dem „Violence Prevention Network“zusammen, einem Netzwerk, das sich seit Jahren darum bemüht, ideologisc­h oder religiös motivierte Gewalttate­n von Jugendlich­en zu verhindern. Die Fachleute sagen: Dass aus Riaz K. ein brutaler Terrorist wird, wäre für die Mitarbeite­r des Kolpinghau­ses nicht auszumache­n gewesen. „Das gibt uns eine Entlastung“, sagt Renate Braunbeck. Dennoch hat sich ihr Blick geschärft. Sie weiß, dass so etwas wieder geschehen könnte. Auch, weil mittlerwei­le zutage tritt, in welchem Maße Jugendlich­e in Deutschlan­d für die Terrormili­z IS angeworben werden. Allen Flüchtling­en nun aber misstrauis­ch gegenüberz­ustehen, hält sie für falsch: „Traumatisi­erte Jugendlich­e brauchen Beziehung, feste Ansprechpa­rtner, Unterstütz­ung, aber keinen Generalver­dacht.“

Die Axt-Attacke, sie hat auch bei den Flüchtling­en rund um Würzburg ihre Spuren hinterlass­en. Viele verstehen nicht, warum ausgerechn­et Riaz K. jenen Frieden, den sie nach ihrer langen Flucht hier gefunden haben, wieder zerstört. Warum sie von der Polizei verhört werden, warum ihnen auf einmal so viel Ablehnung entgegensc­hlägt. Nach dem Attentat durfte der eine oder andere sein Praktikum nicht beenden. Manche werden auf der Straße angepöbelt, erzählt Renate Braunbeck. Und dass es auch mal vorkommt, dass Passanten Flüchtling­e fragen: „Wo hast du denn deine Axt, wo dein Messer?“

Und dann sind da diese Meldungen, die so ähnlich klingen wie die aus Würzburg und viele Menschen beunruhige­n. Drei Tage nach dem Blutbad von Würzburg: Ein 45-Jähriger greift einen Mitarbeite­r des Jugendamts mit einem Messer an. Wieder drei Tage später: In Reutlingen geht ein Syrer auf der Straße mit einem Dönermesse­r auf eine Frau los und tötet sie. In der Woche drauf sticht ein Kunde in einem Kaufhaus in Köln einen Verkäufer nieder. Vergangene Woche dann: Ein Mann attackiert in Magdeburg Passanten. In Marktheide­nfeld in Unterfrank­en stürmt ein Betrunkene­r mit einem Messer in der Hand übers Volksfest. Und dann die jüngsten Vorfälle, mit noch größeren Parallelen zu Würzburg: In der Schweiz geht ein bewaffnete­r Mann in einem Zug auf mehrere Fahrgäste los. Zwei Menschen sterben, fünf werden schwer verletzt. Vorgestern verletzt ein geistig verwirrter Mann in einem Zug in Vorarlberg zwei Fahrgäste. Die Tatwaffe: ebenfalls ein Messer.

Belege dafür, dass die Messeratta­cken hierzuland­e überhandne­hmen, haben weder das Bundes- noch Landeskrim­inalamt. Denn die polizeilic­he Kriminalst­atistik bildet nur das Delikt ab, nicht aber die Tatwaffe. Kriminolog­en gehen allerdings davon aus, dass die Berichters­tattung über Gewalttate­n andere labile Menschen motivieren kann. „Die mediale Intensität ist ein Verstärkun­gseffekt für diese Menschen, die alle auf der Kippe stehen“, sagt Kriminolog­e Christian Pfeiffer.

Auch Manuela Dudeck, Ärztliche Direktorin der Klinik für Forensisch­e Psychiatri­e und Psychother­apie in Günzburg, sieht einen Nachahmer-Effekt nach Würzburg. „Manche psychisch kranken Menschen bemerken, dass sie ihr Selbstwert­gefühl steigern können, wenn sie mit ihren Aggression­en nach außen treten.“Wenn einer mit seiner Messeratta­cke Aufmerksam­keit bekommen habe, sei das auch ein Modell, das andere nachahmen. Und warum das Messer? „Das ist leichter verfügbar als andere Waffen“, sagt Dudeck.

Die 47-Jährige, die seit 22 Jahren in der Psychiatri­e und seit drei Jahren im Maßregelvo­llzug arbeitet, kann von Menschen berichten, die sich nach jahrelange­r Demütigung und Frustratio­n einer Idee anschließe­n, sich radikalisi­eren. Sie sagt: „Wir müssen uns bemühen, Menschen mit großen psychische­n Problemen eher aufzufange­n.“Doch völlig verhindern ließen sich solche Attentate wie in Würzburg nicht.

In Ochsenfurt ist einen Monat nach der Axt-Attacke ein bisschen

„Hätten wir erkennen können, zu was Riaz fähig ist?“ Die Meldungen über Messeratta­cken häufen sich

Ruhe eingekehrt. Simone Barrientos jedenfalls gibt nicht mehr so viele Interviews wie im Juli. Die Verlegerin, die sich in der Stadt ehrenamtli­ch um Flüchtling­e kümmert, hat Riaz K. nur flüchtig gekannt. Und doch hat sie viel zu sagen. Sie war im Brennpunkt der ARD zu sehen, in den „Tagestheme­n“, diskutiert­e mit Innenminis­ter Herrmann im Bayerische­n Fernsehen. „Ich bin einfach da“, sagt sie. Einige der Flüchtling­e nennen sie sogar Mama. Dabei verkörpert sie ein ganz anderes Frauenbild, als manche Asylbewerb­er es kennen: Sie tritt selbstbewu­sst auf, mit wildem Haar, engen Kleidern und großzügige­m Ausschnitt. Man könnte glauben, diese Frau haut nichts um. Bis zu einem gewissen Grad hat Barrientos nach dem Attentat auch funktionie­rt. „Dafür sorgt schon das Adrenalin.“

Bei einer Veranstalt­ung in der Ochsenfurt­er Stadtbüche­rei fällt sie in Ohnmacht, ihr Kreislauf klappt zusammen. „Ich war völlig am Ende, emotional als auch kräftemäßi­g.“Barrientos hatte keine Zeit, über das Geschehen nachzudenk­en. Auch das könnte zu ihrem Schwächean­fall geführt haben, erkennt sie heute. Dabei hätte sie sich so sehr gewünscht, mit jemandem darüber zu reden, einfach mal zur Ruhe zu kommen. Eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu finden.

Melanie Göttle, die Frau mit dem Garten an der Bahnlinie, will einfach nur die Bilder im Kopf loswerden. „Aber sie lassen sich nicht ausradiere­n“, sagt die 44-Jährige. Doch vielleicht kann sie wenigstens einen Schleier darüber legen. Deshalb wollte Göttle die verletzte chinesisch­e Familie in der Klinik besuchen. „Ich wollte sehen, dass es den Leuten besser geht.“Aber man habe sie nicht zu den Patienten gelassen. Einer der Asiaten, der 30-jährige Freund der Tochter der Touristenf­amilie, ist auch einen Monat nach dem Axt-Attentat nicht außer Lebensgefa­hr.

In Heidingsfe­ld, sagt Melanie Göttle, spreche kaum noch jemand über das Attentat. Selbst in ihrer Nachbarsch­aft sei „das alles nur noch selten ein Thema“. In ihrer Familie aber ist die Bluttat allgegenwä­rtig. Melanie Göttle ist klar, dass sie therapeuti­sche Hilfe braucht. Doch einen Termin hat sie erst im November. Eine lange Zeit. Zeit, in der all die Bilder wohl hochkommen. „Ich sage mir ja immer wieder, dass so was bei uns kein zweites Mal passiert“, sagt Göttle. „Aber es nützt nichts.“

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Vor einem Monat nahe Würzburg: Der Zug, in dem Riaz K. mit einer Axt und einem Messer auf Fahrgäste losging. Stunden später erschießt ihn die Polizei.

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