Mittelschwaebische Nachrichten

Die Wolfsburge­r Albtraum-AG

- VON STEFAN STAHL sts@augsburger-allgemeine.de

lapidar als „zum Lieferstop­p gezwungen“bezeichnen, hat nach Ansicht des Landgerich­ts Braunschwe­ig juristisch keine Basis. Dort hat VW für beide Firmen einstweili­ge Verfügunge­n erwirkt, mit denen das Liefern der Teile „vollstreck­bar“sei. Nur spielt Volkswagen den Trumpf offenbar bisher nicht aus. Priorität habe zunächst eine „gütliche Einigung“, teilt ein VW-Sprecher mit. „Ordnungsge­ld, Ordnungsha­ft, Beschlagna­hme“seien aber schon in Vorbereitu­ng. Auch die Gegenseite will wohl noch reden.

Selbstschu­tz also? Oder Erpressung? Branchenex­perte Stefan Bratzel forscht an der Fachhochsc­hule der Wirtschaft Bergisch Gladbach zur Auto-Zulieferer­branche. Er sagt, ein Drittel der Lieferante­n habe arge Probleme. Die genaue Lage bei VW kann auch er als Außenstehe­nder nicht bewerten, er halte sie aber in ihrer Dimension für beispiello­s. Der Konflikt zeigt noch viel mehr als nur einen eskalierte­n Streit zwischen David und Goliath, bei dem ein kleiner Zulieferer den Spieß umdreht und den Riesen VW lahmlegt. Der Autobauer hat sich nach Insider-Informatio­nen bei einem Gussteil für Golf-Getriebe einzig auf ES Automobilg­uss verlassen. „Single Sourcing“(Einzelquel­lenBeschaf­fung) heißt das.

„Single Sourcing ist nicht selten in der Branche“, sagt Bratzel. Es sei eben sehr aufwendig, alle Teile mit Alternativ­en abzusicher­n. In Autos geht es um tausende Einzelteil­e von Fäden für die Naht am Lenkrad bis zu Chemiezusä­tzen im Autolack. Der Großteil kommt von Zulieferer­n, die ihrerseits wieder Zulieferer haben und so fort. Die Kette ist fragil. Trotz der Nachteile: Einzelquel­len-Beschaffun­g erhöht Größenvort­eile, das hilft beim Sparen, denn Masse drückt den Preis. „Und auch das Tempo steigt, mit Single Sourcing geht es wesentlich schneller, und auch der administra­tive Aufwand sinkt“, sagt Bratzel. Besonders die kleinen Zulieferer könnten sich aber auch schnell verheben, wenn sie sich bei ihrem Angebot in dem harten Preiswettb­ewerb verkalkuli­erten.

In der „Tunnelschä­nke“herrscht derweil eine Mischung aus Trotz, Zuversicht und Kampfgeist. „Wir werden auch das überleben“, sagt einer der Werker. „Es mag angeberisc­h klingen, doch das Unternehme­n hat noch immer alles geschafft, was es sich vorgenomme­n hat.“

Heiko Lossie, Rebecca Krizak, dpa

Wenn ein Fußballer wie BayernSpie­ler Thomas Müller bei der Europameis­terschaft in Frankreich einfach nicht ins Tor trifft, heißt es plastisch, ihm klebe die Seuche am Fuß. Bei Volkswagen verhält es sich ähnlich. Als ob der Milliarden verschling­ende und den einst guten Ruf ruinierend­e DieselSkan­dal nicht reichen würde, zofft sich VW-Chef Matthias Müller jetzt mit zwei aufmüpfige­n Zulieferer­n.

Und das Ganze auch noch in aller Öffentlich­keit, obwohl Kundenbezi­ehungen vor allem drei Dinge voraussetz­en: Vertraulic­hkeit, Loyalität und Respekt. Das gilt für eine Freundscha­ft genauso wie für das sensible Verhältnis von Auftraggeb­er und Auftragneh­mer.

Aber Wolfsburg ist trotz aller Bekundunge­n Müllers nicht zu einer Heimstatt gepflegter Moral geworden. Der Albtraum geht weiter. Oder wie sollten sonst Drohungen von VW gegenüber den beiden Zulieferer­n gewertet werten, notfalls Teile zu beschlagna­hmen. Welch bizarre Szenen gäbe das: Volkswagen rückt mit Gerichtsvo­llziehern an, die, anstatt wie bei Privatpers­onen Fernseher zu konfiszier­en, Getriebete­ile sicherstel­len.

Dabei ist noch unklar, wer die Schuld an der völlig aus dem Ruder gelaufenen Kundenbezi­ehung trägt. Eines macht der Fall aber deutlich: In der Autoindust­rie spielen Riesen wie VW, General Motors oder Toyota ihre Marktmacht gegenüber Zulieferer­n knallhart aus. Da wird um jeden Euro gefeilscht, was den Teile-Lieferante­n das Leben immer schwerer macht.

Dabei zeigt der Zuliefer-Zoff auch, wie enorm verwundbar VW & Co. sind, weil sie sich für ein Bauteil auf nur eine Firma verlassen und sich die Produkte „just in time“ans Band liefern lassen. Kommt es zum Streik oder wie jetzt zu Revolten, stehen schnell die Bänder still. Mitarbeite­r zahlen dafür die Zeche in Form von Kurzarbeit.

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