Mittelschwaebische Nachrichten
Die Frage nach Gott in einer zerrissenen Welt
Theologie Ein Eichstätter Professor forscht: Welche Rolle spielt Religion heute? Von der Seele Europas und der Verunsicherung durch den Islam
Eichstätt Wir leben in einer Zeit des Umbruchs und fast scheint es, dass in der Gegenwart nichts Überliefertes mehr zählt. Oder dass gerade die restaurative Rückkehr in die Vergangenheit die einzige Rettung vor den tief greifenden globalen Veränderungen darstellt. Natürlich betrifft dies alles auch die Religion und so kommt die bundesweit einzigartige Heisenberg-Professur „Theologie in den Transformationsprozessen der Gegenwart“an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt recht. Ihr Inhaber Prof. Martin Kirschner hat klare Vorstellungen, was er forschen und lehren will.
Vor zweierlei Aufgaben sieht sich der 45-jährige Theologe gestellt: Einerseits innerkatholisch der Wandel der Sozialgestalt von Kirche, die immer weniger ihre Mitglieder binden kann und zunehmend stärker in polarisierende Strömungen zerfällt. Andererseits interreligiös die Herausforderungen durch Flucht und Migration sowie die Inanspruchnahme Gottes für Terrorakte. Kirschner, so scheint es, traut sich mutig an die Brennpunkte heran, die auch in den täglichen Nachrichten ihren ständigen Platz haben.
Mit den Medien fängt er gleich an. Weit davon entfernt, sie zu verteufeln, beschäftigt ihn die Problematik der modernen Kommunikation. „Die Lebenszeit, die Menschen in virtuellen Räumen verbringen, wird immer größer. Und oft bewegen sie sich dort in apokalyptischen Räumen“, beobachtet der Theologe. Alternativ kann die Religion zur zwischenmenschlichen Begegnung von Angesicht von Angesicht anstiften und mit ihren Sakramenten, Riten und Symbolen eine entleiblichte Existenzweise im Cyberspace wieder ganzheitlich erden.
In einer von empirischer Wissenschaft geprägten Welt treffen bei religiösen Äußerungen unterschiedliche Formen von Rationalität aufeinander. Selbstverantwortete Freiheit stößt auf vorgegebene Dogmatik; Kirche will leiten und senden, wo der moderne Mensch individuelle Verwirklichung anstrebt. Es gilt, unterschiedliche Konzepte ins Gespräch miteinander zu bringen. Religion soll vergewissern, aber nicht auf starrer Doktrin verharren. Zugespitzt wird die Lage, wo durch Migration starke Kulturen aufeinandertreffen und ausgerechnet mit Berufung auf die christliche Identität das Fremde abgelehnt wird.
Martin Kirschner meint, dass unsere Gegenwart mit Papst Franziskus eine „Sternstunde“erlebt. „Sein Evangelium der Barmherzigkeit lässt die Realität an die Eingeweide heran und die Botschaft Gottes politisch werden“, sagt der Theologe. Mit dem Akzent auf Compassion unterlaufe Franziskus den Zug zu kühler EU-Bürokratie und zu ökonomischem Kalkül westlicher Prägung. Sein Begriff einer „Entweltlichung“der Kirche sei nochmals ganz anders als bei Benedikt XVI. – „er beruht auf einer Christologie der Hingabe“. Die an die Ränder geht, die Standorte wechselt und verzweifelte Existenzen wahrnimmt.
Kirschner traut dem päpstlichen Impuls für eine geschärfte christliche Identität zu, in einer Situation des inneren und äußeren Auseinanderdriftens der Gesellschaften Europas sowohl in radikalisierendem Populismus als auch in nationalen Alleingängen heilend zu wirken. Die unterdrückte Debatte um die Seele Europas müsse eine Theologie in den Transformationsprozessen neu entfachen. Denn Kirschner nimmt eine heftige Verunsicherung durch den eingewanderten Islam wahr: „Der Laizismus sieht sich einer starken Religiosität ratlos gegenüber.“ Er erinnert daran, dass das vereinte Europa einst von christlichen Politikern aufgebaut worden ist.
Papst Franziskus habe zugleich mit seiner Weltsynode über die Familie in der heutigen Zeit einen Weg gewiesen für einen Dialog, der keine Vorbedingungen stellt und bei dem die Spielregeln nicht von vornherein feststehen. „Es gilt, Prozesse zu eröffnen und nicht gleich Räume zu besetzen.“Ein derart geführter Dialog gründe theologisch auf einem Gott, der selbst in die Freiheit führt „und sein Beziehungsangebot zu den Menschen erneuert an dem Ort, wo jemand gescheitert ist“.
Riskant ist dieses Vorgehen allemal, ja ausgesprochen leichtfertig in den Augen der Hardliner, weil es angeblich Unverrückbares zur Disposition stellt. Gleichwohl will Kirschner das Modell auch für den innerkirchlich sich verschärfenden Konflikt zwischen Progressiven und Konservativen theologisch fruchtbar machen. Wie brächte man sonst unterschiedliche religiöse Stile und Milieus in Kommunikation miteinander? Wäre die Methode von Erfolg gekrönt, „dann hätte dies eine Strahlkraft und wäre auch für Konflikte tauglich, die unsere Gesellschaft und die Welt zerreißen“.