Mittelschwaebische Nachrichten
Was Draghi mit Bettwäsche zu tun hat
Dank der Niedrigzinsen kaufen sich viele Menschen teure Immobilien, sparen jedoch bei edlen Textilien
Augsburg Dass nichts spannender als Wirtschaft sei, behauptet standhaft das Fachblatt Wirtschaftswoche. Die These bestätigt sich immer wieder, sogar bei einem Blick in Geschäftsberichte von Aktiengesellschaften. Was zahlengespickt abschreckend wirkt, beinhaltet oft erkenntnisreiche Geschichten. Bei der Lektüre des Halbjahresberichts der kleinen Augsburger Aktiengesellschaft Dierig, deren Wurzeln bis in das Jahr 1805 zurückreichen, wird ein Zusammenhang offenbar, der bisher unentdeckt zu sein scheint.
Nach Zahlen-Studien winkt die Erkenntnis, dass sich die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank bis in die Betten der Republik, genauer gesagt auf das BettwäscheKaufverhalten, auswirkt. EZB-Präsident Mario Draghi ist also in den Schlafzimmern angekommen.
Bei der Analyse ist Geduld erforderlich. Denn insgesamt setzte die Dierig AG mit Bettwäsche 2016 in den ersten sechs Monaten in etwa so viel um wie im Vorjahreszeitraum, was keinen Anlass gibt, einen Draghi-Verdacht zu erheben. Doch Vorstandssprecher Christian Dierig hat das Textilgeschäft genauer un- und festgestellt, dass seine Marke Kaeppel „mit preisaggressiver Qualitätsbettwäsche im mittleren Preissegment“sich sehr positiv entwickelt hat. Das könnte mal ein Grund sein, als Deutscher Draghi zu loben, schließlich kaufen viele Menschen mehr ein, weil sie dank der Politik des EZB-Präsidenten für ihr Geld auf dem Konto kaum Zinsen bekommen und sich etwas gönnen.
Mit textilem Lob aus Augsburg wird es dann doch nichts. Denn die Geschäfte mit Dierigs zweiter qualitativ hochwertiger und teurerer Bettwäschemarke Fleuresse sind unter Druck geraten. Der Unternehmer sagt dazu: „Haushalte, die sich durch den Kauf einer Wohnimmobilie verschuldet haben, sparen beispielsweise an der Bettwäsche.“
Die logische Kette lautet also: Draghi hat die Zinsen auf Null-Niveau gebettet, was Baugeld enorm billig macht, die Preise für Immobilien steigen lässt, sodass sich viele Menschen enorm verschulden, um sich den Traum von den eigenen vier Wänden zu erfüllen. Am Ende fehlt das Geld für den Kauf langlebiger Premium-Bettwäsche.
Damit nicht genug der DraghiEffekte in der Dierig-Bilanz. Denn das Unternehmen unterhält eine größere Landesgesellschaft in der Schweiz. In Zeiten der anhaltenden Eurokrise sehen Anleger in dem Land einen sicheren Hafen. So hat der Franken stark gegenüber dem Euro aufgewertet, was es für die Eidgenossen noch teurer als bisher macht, im eigenen Land einzukaufen. So kaufen sie scharenweise jenseits ihrer Grenzen im für sie günstigen Euroraum ein. Folglich brach auch der bisherige Dierig-Umsatz mit Bettwäsche in der Schweiz ein. Der Konzern mit insgesamt 204 Mitarbeitern handelte und schraubtersucht te das Schweiz-Geschäft zurück, was Arbeitsplätze kostete.
Hinzu gesellt sich ein Draghi-Effekt, der gerade Dierig, ein Unternehmen mit vielen Betriebsrentnern, belastet. Die Firma war einmal das größte Textil-Unternehmen auf dem europäischen Kontinent und beschäftigte nach dem Zweiten Weltkrieg noch bis zu 8000 Mitarbeiter. Nach wie vor sieht sich Christian Dierig in der Pflicht, die Betriebsrenten zu bezahlen. Dazu ist durch die Draghi-Politik künftig ein größerer finanzieller Akt notwendig. Denn wenn es wie aktuell für sichere Anlageformen kaum Zinsen gibt, wird es schwerer und für das Unternehmen teurer, Rückstellungen für Pensionäre zu bilden.
In der Bilanz der Augsburger Aktiengesellschaft steckt jede Menge Draghi. Dabei darf ein für Dierig sehr positiver Effekt nicht unterschlagen werden: Der auf die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank zurückgehende ImmobilienBoom wirkt sich wohltuend auf die Geschäftszahlen des auf dem Feld stark engagierten Unternehmens aus. Immobilien- und Grundstücksverkäufe haben dazu beigetragen, dass unter dem Strich ein Gewinn von drei Millionen Euro verbleibt, während es in den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres 1,9 Millionen waren.
Draghi kann nicht für alles herhalten, zumal wenn es um Afrika geht. Auf dem Kontinent spielt eine weitere spannende Dierig-Geschichte mit Rückwirkungen bis nach Augsburg. Das Unternehmen liefert am Heimatstandort designte bunte Damaststoffe nach Afrika. Sie werden zu Boubous verarbeitet. Männer der Mittel- und Oberschicht tragen die farbenfrohen Gewänder. Sie sind ein Statussymbol wie in Deutschland Autos. Auf dem einst lukrativen Markt kamen Dierig nicht die Euro-Zinsen, sondern der niedrige Ölpreis in die Quere, unter dem besonders das Förderland Nigeria mit rund 185 Millionen Einwohnern leidet. Viele Menschen haben dort weniger Geld zur Verfügung und tragen ihre alten Boubous weiter, so wie Deutsche im Krisenfall alte Autos länger fahren. Dabei strahlt die Nigeria-Krise auf ganz Westafrika aus, also das Absatzgebiet die Augsburger Damaststoffe.
Zinspolitik und der Ölpreis können spannende Themen sein. Und Bilanzen erzählen Geschichten, von Frankfurt, dem Sitz der EZB, über Augsburg bis nach Nigeria.