Mittelschwaebische Nachrichten
Unendliche Weiten
Wir schreiben das Jahr 2016, und ein Computerspiel zeigt, was nie ein Mensch zuvor gesehen hat – 50 Jahre nach dem Start von Raumschiff Enterprise. Was lehrt uns das?
Der wohl bis heute charmanteste aller versuchten Gottesbeweise ist der des Franzosen René Descartes aus dem 17. Jahrhundert. Er argumentierte (unter anderem): Eine Ursache könne nicht weniger vollkommen sein als ihre Wirkung – der Mensch also kann nicht Schöpfer einer Idee sein, die seine eigenen Dimensionen grundlegend überschreitet. Die Idee von Gott aber überschreitet alles, kann dem Menschen also nur als „angeborene Idee“von Gott selbst eingegeben worden sein. Wie charmant das gedacht ist, können wir noch im 21. Jahrhundert leicht nachvollziehen. Denken Sie sich mal einen pinken Elefanten. Geht ganz einfach, ob es ihn nun gibt oder nicht. Und jetzt stellen Sie sich mal die Unendlichkeit vor…
Heute vor genau 50 Jahren hat, was diesen Versuch angeht, die berühmteste Mission der Menschheitsgeschichte begonnen. Mitten hinein in den tatsächlichen Wettlauf zum Mond zwischen Amerika und der Sowjetunion brach Captain James T. Kirk mit seiner Mannschaft um den Ersten Offizier Mr. Spock mit dem Raumschiff Enter- gleich in unendliche Weiten auf, um zu entdecken, was noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Und auch wenn die Original-Besatzung 47 Tage vor der echten ersten Mondlandung von Bord gehen musste, erreichte der Kult um „Star Trek“bis heute in fünf Serien (darunter auch „Deep Space Nine“und „Voyager“) insgesamt 703 Folgen. Der 13. Film des Universums läuft derzeit noch in vielen Kinos, und im nächsten Jahr soll auch eine neue Serie im US-Fernsehen starten. Denn der Traum, der diesen Abenteuern zugrunde liegt, hat an ihrem Reiz nichts verloren.
Auch wenn wir heute berechnen können, dass wir nicht wie die Enterprise per Warp-Antrieb in wenigen Tagen zum nächsten belebten Planeten reisen können, dass wir mit der schnellsten aller bislang gestarteten Raumsonden zum kürzlich entdeckten, womöglich zumindest lebensfreundlichen „Proxima Centauri“etwa 55 000 Jahre bräuchten – die Frage bleibt: Wie sollen wir uns die Unendlichkeit vorstellen? Was würden wir dort finden? Die unterschiedlichen Star-Trek-Generationen sind auf die spitzohrigen Vulkanier und die gewissenlosen Romula- ner, auf die alles assimilierenden Borg („Widerstand ist zwecklos“) und auf die symbiotisch lebenden Trill getroffen. Sie haben Abenteuer erlebt, philosophische Rätsel gelöst, die Grenzen unserer Wirklichkeit ausgelotet – und sind in den „Q“auch so einer Art Götter begegnet, unsterblich, nahezu allmächtig, allerdings ganz schön eitel und keine Schöpfer.
In diesem Sinne zeigt sich erst jetzt, 50 Jahre nach dem ersten Start, Gott. Abseits der Enterprise, vielleicht noch besser: durch ein Computerspiel in seinem unermesslichen Wirken für jeden auch selbst zu erkunden. Denn mit maximalem Branchenfieber ist kürzlich „No Man’s Sky“(etwa: Niemandes Himmel) vorgestellt worden. Ein Weltraum-Game, in dem über 18 Quintillionen unterschiedliche Planeten zu entdecken sind. Genau ist die Zahl (mit 18 Nullen) nicht festzustellen, denn die Schöpfung geht stetig weiter. Das kommt der doch eigentlich unmöglichen Vorstellung von der Unendlichkeit doch ziemlich nah, wenn man bedenkt, wie winzig die Wahrscheinlichkeit ist, anderen Spielern – und seien es Millionen – überhaupt auch nur zu beprise gegnen. Klar ist jedenfalls: Schöpfer eines solchen Universums kann kein Mensch, kein Programmierer sein.
Nein, der zeitgemäße Gott heißt hier einfach Computer, genauer: Es ist ein Algorithmus, 1400 Zeilen Code, der in nahezu unendlichen Versionen Möglichkeiten kombiniert. Und so können die Menschen zu Hause am Bildschirm alles Erdenkliche an Lebewesen und Planetenformen entdecken – um dann was zu tun? Missionen zu erfüllen, Rohstoffe sammeln, auch mal kämpfen. Spieler, die sich in diese Unendlichkeit begeben haben, berichten von einem anfänglichen großen Staunen. Und bald schon von großer Langeweile. Als hätten’s die Entwickler gewusst, prangt, wenn man „No Man’s Sky“verlässt, ein Satz auf dem Bildschirm: „Ich realisiere, dass ich trotz all meiner Anstrengung unverändert bin.“
Diese Unendlichkeit ist der pinke Elefant in zahllosen Gestalten. Denn der Algorithmus ist nur ein Werkzeug, mit dem sich die Vorstellungen des Menschen verselbstständigt potenzieren – aber ihren beschränkten Horizont nicht verlassen. Und unsere Ideen mögen erstaunlich sein. Vollkommen sind sie nicht.