Mittelschwaebische Nachrichten
Was Märchen erzählen
In Würzburg treffen sich in dieser Woche die Liebhaber alter Geschichten aus ganz Europa. Warum es bei dem Kongress nicht nur um heile Welten geht
im Märchen – heißt es oft in schönen Momenten. Doch in den überlieferten Geschichten ist nicht alles so märchenhaft, wie es klingt, sagt die Präsidentin der Europäischen Märchengesellschaft, Sabine Lutkat. Märchen taugen keineswegs immer zum Eintauchen in heile Welten. Die Bilder und Symbole beschreiben vielmehr menschliche Grunderfahrungen. Jeder könne für sich Schlüsse ziehen. Dazu bietet der Jahreskongress der Europäischen Märchengesellschaft Gelegenheit. Er findet ab morgen bis Sonntag in Würzburg statt.
Welchen Ansatz hat die Europäische Märchengesellschaft? Lutkat: Wir versuchen allen Menschen, die sich für Märchen interessieren, einen Ort zu geben, wo sie sich mit ihnen auseinandersetzen können. Das umfasst wissenschaftliche Aspekte genauso wie das Märchenerzählen an sich. Wir sind aber auch Ansprechpartner für Menschen, die Märchen in ihren unterschiedlichsten Formen einfach mögen. Ein Ziel von uns ist auch, auf die Aktualität von Märchen aufmerksam zu machen. Sie sind keine Relikte aus längst vergangenen Zeiten. Es sind Geschichten, die von so grundsätzlichen Erfahrungen erzählen, dass sie auch heute noch Menschen etwas sagen können. Was den Menschen nichts bedeutet oder nichts sagt, wird nicht weitererzählt.
Das Märchenerzählen, auch auf professioneller Ebene, ist populär geworden. Wie erklären Sie sich das? Lutkat: Es gibt ein verstärktes Bedürfnis nach mehr Kommunikation und Zwischenmenschlichkeit. Menschen wollen untereinander wieder mehr in Beziehung treten. Und sie wollen Märchen hören, weil sie merken, dass die Geschichten etwas mit ihnen zu tun haben. Sie hungern nach Geschichten, die ihnen sagen, das Leben ist sinnvoll. Märchen erzählen davon, dass wir in sinnvolle Zusammenhänge eingebettet sind. Jeder muss aber für sich die Deutung finden, am besten ohne Symbol-Lexikon. Märchen haben viele mögliche Bedeutungen.
Suchen manche nicht auch in Märchen nach der behaglichen heilen Welt? Lutkat: Märchen erzählen nicht von heilen Welten. Sie erzählen davon, dass die Welt immer wieder ein Stückchen heil sein kann, trotz allem Dunklen und Schweren. Sicher kann man solche Geschichten als Eskapismus, als Flucht vor der Realität, benutzen. Aber das ist eine vertane Es geht darum, Märchen als Ausflug zu sehen, damit man gestärkt ins Leben zurückkehrt.
Märchen verwenden wundersame Bilder, die wohl manche zur Flucht vor der Realität verleiten. Lutkat: Das ist das eine. Ich finde es jedoch reizvoller, dass jeder in diesen Bildern auf die Suche gehen und herausfinden kann, was das mit eigenen Erfahrungen zu tun hat. Diese gehen ja auch immer wieder über das rein Reale hinaus. Sie werden symbolisch beschrieben. Das ist so, seit sich Menschen Geschichten erzählen. Unser Leben besteht nicht nur aus dem tatsächlich Seh- und Greifbaren, sondern aus Abläufen, die sich nicht immer mit Logik erklären lassen. Deshalb brauchen wir Bilder. Und diese sind nicht immer angenehm. Sonst käme ja der VorWie wurf der Grausamkeit in Märchen gar nicht zum Tragen.
„Kinder brauchen Märchen“lautet der bekannte Buchtitel des Kinderpsychologen Bruno Bettelheim aus den 1970er Jahren. Sind Märchen überhaupt für Kinder geeignet? Lutkat: Märchen waren ursprünglich keine Kindergeschichten, sondern überliefertes und immer wieder im Lauf der Zeit verändertes Erzählgut. Es gibt wunderbare Märchen für Kinder, aber es muss ausgewählt werden. Nur weil es ein Märchen ist, heißt es nicht, dass es automatisch für Kinder geeignet ist. Dass Märchen immer mehr in den Kinderbereich gesteckt wurden, begann mehr oder weniger mit der Sammlung der Brüder Grimm vor gut 200 Jahren. Sie haben ihre Sammlung ja nicht umsonst „Kinder- und Haus-MärChance. chen“genannt. Ich würde nicht alles, was in dieser Sammlung steht, Kindern erzählen.
Mögen Sie Grimms Märchen? Lutkat: Die mag ich sicher auch. Aber Märchen sind halt mehr als Grimm. Grimm ist ein Sonderfall. Wir wissen so viel über die Geschichten und über die Änderungen, die Wilhelm Grimm an den Texten vorgenommen hat. Das ist interessant, aber auch eine Last.
Kinder brauchen also keine Märchen, zumindest nicht Grimms Märchen? Lutkat: Oh doch, Kinder brauchen Märchen, genauso wie Erwachsene auch. Märchen können für Kinder ganz viel anregen und bedeuten. Das Problem ist, wenn die Themen auf Kinder begrenzt werden. Oder wenn Geschichten angeblich kindgerecht umgeschrieben werden, so, dass nur noch rosa Zeug übrig bleibt. Wir brauchen alle, Kinder wie Erwachsene, Bilder für unsere Ängste, für das Dunkle. Wenn aus jedem Drachen nur noch ein Drache-hab-mich-lieb wird, dann stimmt das einfach nicht mehr. Kindern und Erwachsenen wird so die Möglichkeit genommen, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen.
Zu den menschlichen Grunderfahrungen gehört nicht nur das Dunkle. Lutkat: Sicher erzählen Märchen neben dunklen Gefühlen wie Hass und Neid auch von Glück, Sehnsucht, Liebe, Freundschaft. Deswegen sind die Grundstrukturen in Märchen so ähnlich – in vielen Kulturen.
Welches Märchen passt zum eher dunklen Kongressthema „Macht und Ohnmacht“? Lutkat: Das Rumpelstilzchen – ein Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm. Darin wird die Müllerstocher von ihrem Vater verraten und verkauft, vom König unter Druck gesetzt und von Rumpelstilzchen erpresst. Die Tochter befindet sich in einer absoluten Ohnmachtssituation. Spannend wird es, wenn sie aus ihrer Ohnmacht in die Handlungsebene kommt. Macht haben heißt ja, ich kann etwas machen. In diesem Moment verändert sich etwas im Märchen. Sie ist nicht mehr der Ohnmacht ausgeliefert.
Interview: Christine Jeske