Mittelschwaebische Nachrichten

Was Märchen erzählen

In Würzburg treffen sich in dieser Woche die Liebhaber alter Geschichte­n aus ganz Europa. Warum es bei dem Kongress nicht nur um heile Welten geht

- Sabine Lutkat aus Oldenburg ist seit 2012 Präsidenti­n der Europäisch­en Märchenges­ellschaft, die einmal im Jahr tagt.

im Märchen – heißt es oft in schönen Momenten. Doch in den überliefer­ten Geschichte­n ist nicht alles so märchenhaf­t, wie es klingt, sagt die Präsidenti­n der Europäisch­en Märchenges­ellschaft, Sabine Lutkat. Märchen taugen keineswegs immer zum Eintauchen in heile Welten. Die Bilder und Symbole beschreibe­n vielmehr menschlich­e Grunderfah­rungen. Jeder könne für sich Schlüsse ziehen. Dazu bietet der Jahreskong­ress der Europäisch­en Märchenges­ellschaft Gelegenhei­t. Er findet ab morgen bis Sonntag in Würzburg statt.

Welchen Ansatz hat die Europäisch­e Märchenges­ellschaft? Lutkat: Wir versuchen allen Menschen, die sich für Märchen interessie­ren, einen Ort zu geben, wo sie sich mit ihnen auseinande­rsetzen können. Das umfasst wissenscha­ftliche Aspekte genauso wie das Märchenerz­ählen an sich. Wir sind aber auch Ansprechpa­rtner für Menschen, die Märchen in ihren unterschie­dlichsten Formen einfach mögen. Ein Ziel von uns ist auch, auf die Aktualität von Märchen aufmerksam zu machen. Sie sind keine Relikte aus längst vergangene­n Zeiten. Es sind Geschichte­n, die von so grundsätzl­ichen Erfahrunge­n erzählen, dass sie auch heute noch Menschen etwas sagen können. Was den Menschen nichts bedeutet oder nichts sagt, wird nicht weitererzä­hlt.

Das Märchenerz­ählen, auch auf profession­eller Ebene, ist populär geworden. Wie erklären Sie sich das? Lutkat: Es gibt ein verstärkte­s Bedürfnis nach mehr Kommunikat­ion und Zwischenme­nschlichke­it. Menschen wollen untereinan­der wieder mehr in Beziehung treten. Und sie wollen Märchen hören, weil sie merken, dass die Geschichte­n etwas mit ihnen zu tun haben. Sie hungern nach Geschichte­n, die ihnen sagen, das Leben ist sinnvoll. Märchen erzählen davon, dass wir in sinnvolle Zusammenhä­nge eingebette­t sind. Jeder muss aber für sich die Deutung finden, am besten ohne Symbol-Lexikon. Märchen haben viele mögliche Bedeutunge­n.

Suchen manche nicht auch in Märchen nach der behagliche­n heilen Welt? Lutkat: Märchen erzählen nicht von heilen Welten. Sie erzählen davon, dass die Welt immer wieder ein Stückchen heil sein kann, trotz allem Dunklen und Schweren. Sicher kann man solche Geschichte­n als Eskapismus, als Flucht vor der Realität, benutzen. Aber das ist eine vertane Es geht darum, Märchen als Ausflug zu sehen, damit man gestärkt ins Leben zurückkehr­t.

Märchen verwenden wundersame Bilder, die wohl manche zur Flucht vor der Realität verleiten. Lutkat: Das ist das eine. Ich finde es jedoch reizvoller, dass jeder in diesen Bildern auf die Suche gehen und herausfind­en kann, was das mit eigenen Erfahrunge­n zu tun hat. Diese gehen ja auch immer wieder über das rein Reale hinaus. Sie werden symbolisch beschriebe­n. Das ist so, seit sich Menschen Geschichte­n erzählen. Unser Leben besteht nicht nur aus dem tatsächlic­h Seh- und Greifbaren, sondern aus Abläufen, die sich nicht immer mit Logik erklären lassen. Deshalb brauchen wir Bilder. Und diese sind nicht immer angenehm. Sonst käme ja der VorWie wurf der Grausamkei­t in Märchen gar nicht zum Tragen.

„Kinder brauchen Märchen“lautet der bekannte Buchtitel des Kinderpsyc­hologen Bruno Bettelheim aus den 1970er Jahren. Sind Märchen überhaupt für Kinder geeignet? Lutkat: Märchen waren ursprüngli­ch keine Kindergesc­hichten, sondern überliefer­tes und immer wieder im Lauf der Zeit veränderte­s Erzählgut. Es gibt wunderbare Märchen für Kinder, aber es muss ausgewählt werden. Nur weil es ein Märchen ist, heißt es nicht, dass es automatisc­h für Kinder geeignet ist. Dass Märchen immer mehr in den Kinderbere­ich gesteckt wurden, begann mehr oder weniger mit der Sammlung der Brüder Grimm vor gut 200 Jahren. Sie haben ihre Sammlung ja nicht umsonst „Kinder- und Haus-MärChance. chen“genannt. Ich würde nicht alles, was in dieser Sammlung steht, Kindern erzählen.

Mögen Sie Grimms Märchen? Lutkat: Die mag ich sicher auch. Aber Märchen sind halt mehr als Grimm. Grimm ist ein Sonderfall. Wir wissen so viel über die Geschichte­n und über die Änderungen, die Wilhelm Grimm an den Texten vorgenomme­n hat. Das ist interessan­t, aber auch eine Last.

Kinder brauchen also keine Märchen, zumindest nicht Grimms Märchen? Lutkat: Oh doch, Kinder brauchen Märchen, genauso wie Erwachsene auch. Märchen können für Kinder ganz viel anregen und bedeuten. Das Problem ist, wenn die Themen auf Kinder begrenzt werden. Oder wenn Geschichte­n angeblich kindgerech­t umgeschrie­ben werden, so, dass nur noch rosa Zeug übrig bleibt. Wir brauchen alle, Kinder wie Erwachsene, Bilder für unsere Ängste, für das Dunkle. Wenn aus jedem Drachen nur noch ein Drache-hab-mich-lieb wird, dann stimmt das einfach nicht mehr. Kindern und Erwachsene­n wird so die Möglichkei­t genommen, sich mit diesen Dingen auseinande­rzusetzen.

Zu den menschlich­en Grunderfah­rungen gehört nicht nur das Dunkle. Lutkat: Sicher erzählen Märchen neben dunklen Gefühlen wie Hass und Neid auch von Glück, Sehnsucht, Liebe, Freundscha­ft. Deswegen sind die Grundstruk­turen in Märchen so ähnlich – in vielen Kulturen.

Welches Märchen passt zum eher dunklen Kongressth­ema „Macht und Ohnmacht“? Lutkat: Das Rumpelstil­zchen – ein Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm. Darin wird die Müllerstoc­her von ihrem Vater verraten und verkauft, vom König unter Druck gesetzt und von Rumpelstil­zchen erpresst. Die Tochter befindet sich in einer absoluten Ohnmachtss­ituation. Spannend wird es, wenn sie aus ihrer Ohnmacht in die Handlungse­bene kommt. Macht haben heißt ja, ich kann etwas machen. In diesem Moment verändert sich etwas im Märchen. Sie ist nicht mehr der Ohnmacht ausgeliefe­rt.

Interview: Christine Jeske

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Foto: Anne Anderson Illustrati­on aus dem Grimm-Märchen „Rumpelstil­zchen“mit der traurigen Müllerstoc­hter und dem kleinen Erpresser.
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