Mittelschwaebische Nachrichten
Wer ist ich?
Mit Romanen vom Scheitern am Leben war er erfolgreich. Jetzt gibt er Einblick in die Hölle manisch-depressiver Erkrankung. Das wahre Drama des Thomas Melle
Manisch-depressiv sein, an einer bipolaren Störung leiden – rund 800 000 Menschen sind davon in Deutschland betroffen. Und es gibt vor allem zwei Wege, auf denen diese Erkrankung immer wieder in die Öffentlichkeit gelangt. Und beide machen Thomas Melle wütend. Die eine: Von Amokläufern und Attentätern heißt es immer wieder, ihre Handlungen wären Folge der Krankheit. Die andere: Künstler und vor allem Autoren sollen durch diesen doppelten Grenzgang jenseits der Normalität zu Besonderem fähig sein – Genie und Wahnsinn. Melle sagt: Im einen Fall würden psychisch Kranke kriminalisiert, die doch in aller Regel höchstens gegen sich selbst aggressiv würden; und im anderen Fall werde zum Schöpferischen verklärt, was doch eigentlich nichts als zerstörerisch sei. Es sei Zeit, die Wahrheit offenzulegen. Nun klärt Melle auf. Rückhaltlos. Berührend und bestürzend.
Denn „Die Welt im Rücken“ist mehr als ein Buch. Es ist sein eigenes Lebensdrama, von dem Melle erzählt. Ein besonderes. Der 1975 in Bonn geborene Autor, der auch erfolgreich fürs Theater und als Übersetzer arbeitete, war bereits mit seinen beiden ersten Romanen für den Deutschen Buchpreis nominiert. In „Sickster“2011 und „3000 Euro“ 2014 hat er das Scheitern an der Normalität des Lebens thematisiert, ging es um Grundzüge des ManischDepressiven, allerdings stilisiert zum Roman. Jetzt, wo Melle wieder auf der Nominierten-Liste steht, ist es ein schlichter, eindrücklicher Tatsachenbericht. Vom unheimlich klugen und gefeierten Autor bis zum Wrack, überschuldet, medikamentenabhängig, verloren im betreuten Wohnen. Kein Roman. Es wäre ein weitreichender Triumph, wenn dieses Buch eine sonst auf Romane abonnierte Auszeichnung erhalten würde.
Denn gerade die realitätsgetreue Ich-Bearbeitung in Literatur erlebte zuletzt eine neue Blüte. Zum Star geworden ist der Norweger Karl Ove Knausgård mit der grüblerisch egomanen Nacherzählung seines Lebens in den sechs Bänden „Mein Kampf“. Und neben vielen anderen hat auch der ehemalige Held des deutschen Pop-Romans Benjamin von Stuckrad-Barre dieses Jahr in „Panikherz“eine Beichte über seine Magersucht und Kokainabhängigkeit vorgelegt – mit durchgängiger Udo-Lindenberg-Widmung und einem fast masochistischen Drive ins Unterhaltsame. Aber es gibt einen guten Grund, warum Melle etwa zu Knausgård schreibt: „Ich glaube ihm kein Wort.“
Im Kontrast wird der Unterschied offenkundig. Melle etwa schreibt: „Das Drama, das eine erste Psychose auslöst, ist erheblich. Für einen selbst ist es ein unbegreiflicher, allumfassender Kick, der einen in himmelschreiende Sphären schleudert; für Freunde und Familie ist es eine blanke Tragödie. Aus dem Nichts wird da einer, den man anders kennt, verrückt, buchstäblich verrückt, und zwar genauer, realer, peinlicher, als es in den Filmen, den Büchern gezeigt wird, wird wahnsinnig wie ein wildäugiger Penner, der den Straßenverkehr beschimpft, wird dumm, töricht, unheimlich. Aus dem Nichts wird der Freund zum Fremden an sich.“
Melle beschreibt schonungslos solche Momente. Wie er tief in die Dunkelheit der Depression vordringt, bis hin zum versuchten Selbstmord. Und wie er schließlich nach Wiederkehr des Höllenkreises zur vielleicht schmerzhaftesten Erkenntnis gelangt: Dass die Krankheit bleiben wird, das alte Ich auf ewig in Trümmern liegt. „Zum Fremden an sich“ist er auch für sich selbst geworden. Das kann nur noch in seinen Auswirkungen gelindert, aber nicht mehr geheilt werden.
In diesem Bekenntnis steckt keinerlei Stilisierung ins Abenteuerliche wie bei Stuckrad-Barre, die den Leser samt Promi-Faktor unterhält; und keine literarische Selbst-Erforschung wie bei Karl Ove Knausgård, die den Leser zu eigenen nostalgischen Erkundungen bringt. Der deutsche Pop-Literat bespiegelt von jeher betont durch seine persönliche Brille die Welt. Und der Norweger versichert, er sei gar nicht in der Lage über sich selbst zu schreiben. Bei Thomas Melle ist die Offenbarung der reinen Not geschuldet. Er muss sich erklären. Weil er durch seine lange versteckt gehaltene Krankheit nicht nur sich selbst geschadet hat; weil er nur so frei werden kann, wieder über etwas anderes zu schreiben; und weil er meint, endlich aufklären zu müssen. Über all die fatalen Missverständnisse dieser Persönlichkeitsstörung. Rückhaltlos.
„Meine Krankheit hat mir meine Heimat genommen. Jetzt ist meine Krankheit meine Heimat“, schreibt er. Die Erinnerung zerfetzt, die Halt gebenden, angesammelten Dinge des Lebens in der Manie verschleudert, das Schreiben infiziert. „Aber es geht besser, immer besser.“Manche Freunde sind geblieben. Es gibt Hoffnung. Ein wenig. Es gibt Angst. Sehr große. Aber er lebt. Alles Gute, Thomas Melle.
„Aus dem Nichts wird der Freund zum Fremden an sich“