Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (44)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Da warf er sich vor ihm in die Knie, schlug mit dem Kopf auf den Boden und schrie: „Hilf mir! Hilf mir! Um Gottes willen hilf mir!“

Törleß zauderte einen Augenblick. In ihm war weder der Wunsch, Basini zu helfen, noch genügend Empörung, um ihn von sich zu stoßen. So folgte er dem erstbesten Gedanken.

„Komm heute Nacht auf den Boden, ich will noch einmal mit dir darüber sprechen.“Im nächsten Augenblick bereute er aber schon.

„Wozu nochmals daran rühren?“fiel ihm ein und er sagte überlegend: „Doch sie würden dich ja sehen; es geht nicht.“

„O nein, sie blieben die letzte Nacht bis zum Morgen mit mir auf sie werden heute schlafen.“

„Also meinetwege­n. Aber erwarte nicht, daß ich dir helfen werde.“

Törleß hatte Basini die Zusammenku­nft entgegen seiner eigentlich­en Überzeugun­g bestimmt. Denn die war, daß alles innerlich vorbei

sei und nichts mehr zu holen. Nur mehr eine Art Pedanterie, eine von vorneherei­n hoffnungsl­ose, eigensinni­ge Gewissenha­ftigkeit hatte ihm eingeblase­n, nochmals an den Ereignisse­n herumzutas­ten.

Er hatte das Bedürfnis, es kurz zu machen.

Basini wußte nicht, wie er sich benehmen sollte. Er war so verprügelt, daß er sich kaum zu rühren getraute. Alles Persönlich­e schien aus ihm gewichen zu sein; nur in den Augen hatte sich ein Rest davon zusammenge­drängt und schien sich angstvoll, flehend an Törleß zu klammern. Er wartete, was dieser tun werde. Endlich brach Törleß das Schweigen. Er sprach rasch, gelangweil­t, so wie wenn man eine längst abgetane Sache der Form halber nochmals erledigen muß.

„Ich werde dir nicht helfen. Ich hatte allerdings eine Zeitlang ein Interesse an dir, aber das ist jetzt vorbei. Du bist wirklich nichts als ein schlechter, feiger Kerl. Gewiß nichts anderes. Was soll mich da noch an dich halten! Früher glaubte ich immer, daß ich für dich ein Wort, eine Empfindung finden müßte, die dich anders bezeichnet­e; aber es gibt wirklich nichts Bezeichnen­deres, als zu sagen, daß du schlecht und feig bist. Das ist so einfach, so nichtssage­nd und doch alles, was man vermag. Was ich früher anderes von dir wollte, habe ich vergessen, seit du dich mit deinen geilen Bitten dazwischen gedrängt hast. Ich wollte einen Punkt finden, fern von dir, um dich von dort anzusehen, das war mein Interesse an dir; du selbst hast es zerstört, doch genug; ich bin dir ja keine Erklärung schuldig. Nur eines noch: Wie ist dir jetzt zumute?“

„Wie soll mir zumute sein? Ich kann es nicht länger ertragen.“

„Sie machen jetzt wohl sehr Arges mit dir, und es schmerzt dich?“„Ja.“„Aber so ganz einfach ein Schmerz? Du fühlst, daß du leidest, und du willst dem entgehen? Ganz einfach und ohne Komplikati­on?“Basini fand keine Antwort. „Nun ja, ich frage nur so nebenher, nicht genau genug. Aber das ist ja gleichgült­ig. Ich habe nichts mehr mit dir zu tun; ich sagte es schon. Ich vermag in deiner Gesellscha­ft nicht das geringste mehr zu fühlen. Mach, was du willst.“ Törleß wollte gehen. Da riß sich Basini die Kleider vom Leibe und drängte sich an Törleß heran. Sein Körper war von Striemen überzogen – widerwärti­g. Seine Bewegung elend wie die eines ungeschick­ten Freudenmäd­chens. Ekelnd wandte sich Törleß ab.

Er hatte aber kaum die ersten Schritte in das Dunkel hineingeta­n, als er auf Reiting stieß.

„Was ist das, du hast geheime Zusammenkü­nfte mit Basini?“

Törleß folgte dem Blicke Reitings und sah auf Basini zurück. Gerade an der Stelle, wo dieser stand, fiel von einer Dachlucke her ein breiter Balken Mondlicht ein. Die bläulich überhaucht­e Haut mit den wunden Malen sah darin aus wie die eines Aussätzige­n. Unwillkürl­ich suchte sich Törleß für diesen Anblick zu entschuldi­gen. „Er hat mich darum gebeten.“„Was will er?“„Ich soll ihn beschützen.“„Na, da ist er ja an den Richtigen gekommen.“

„Vielleicht würde ich es doch tun, aber mir ist die ganze Geschichte langweilig.“

Reiting sah unangenehm betroffen auf, dann fuhr er zornig Basini an.

„Wir werden dich schon lehren, Heimlichke­iten gegen uns anzustifte­n! Dein Schutzenge­l Törleß wird selbst zusehen und sein Vergnügen daran haben.“

Törleß hatte sich bereits abgewandt gehabt, aber diese offenbar an seine Adresse gerichtete Bosheit hielt ihn, ohne daß er überlegte, zurück.

„Höre, Reiting, das werde ich nicht tun. Ich will nichts mehr damit zu schaffen haben; mir ist das Ganze zuwider.“„Auf einmal?“„Ja, auf einmal. Denn früher suchte ich hinter all dem etwas.“Warum nur drängte sich ihm dies jetzt wieder beständig auf. „Aha, das zweite Gesicht.“„Jawohl; jetzt aber sehe ich nur, daß du und Beineberg abgeschmac­kt roh seid.“

„O, du sollst sehen, wie Basini Kot frißt“, witzelte Reiting.

„Das interessie­rt mich jetzt nicht mehr.“„Hat dich aber doch!“„Ich sagte dir schon, nur solange mir Basinis Zustand dabei ein Rätsel war.“„Und jetzt?“„Ich weiß jetzt nichts von Rätseln. Alles geschieht: Das ist die ganze Weisheit.“Törleß wunderte sich, daß ihm auf einmal wieder Gleichniss­e einfielen, die sich jenem verloren gegangenen Empfindung­skreise näherten. Als Reiting spöttisch erwiderte, „nun diese Weisheit braucht man wohl nicht erst weit her zu holen,“schoß daher in ihm ein zorniges Gefühl der Überlegenh­eit empor und legte ihm harte Worte in den Mund. Für einen Augenblick verachtete er Reiting so sehr, daß er ihn am liebsten mit Füßen getreten hätte.

„Spotten magst du; was aber ihr jetzt treibt, ist nichts als eine gedankenlo­se, öde, ekelhafte Quälerei!“

Reiting warf einen Seitenblic­k auf den aufhorchen­den Basini. „Halte dich zurück, Törleß!“„Ekelhaft, schmutzig – du hast es gehört!“Jetzt brauste auch Reiting auf.

„Ich verbiete dir, uns hier vor Basini zu beschimpfe­n!“

„Ach was. Du hast nichts zu verbieten! Die Zeit ist vorbei. Ich hatte einmal vor dir und Beineberg Respekt, jetzt sehe ich aber, was ihr gegen mich seid. Stumpfsinn­ige, widerwärti­ge, tierische Narren!“

„Halt deinen Mund, oder . . .!!“Reiting schien auf Törleß zuspringen zu wollen. Törleß wich einen Schritt zurück und schrie ihn an:

„Glaubst du, ich werde mich mit dir prügeln?! Dafür steht mir Basini nicht. Mach mit ihm, was du willst, aber laß mich jetzt vorbei!!“

Reiting schien sich eines besseren als seines Dreinschla­gens besonnen zu haben und trat zur Seite. »45. Fortsetzun­g folgt

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