Mittelschwaebische Nachrichten

Die Vater-Tochter

Judith Kerr wurde berühmt mit „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Mit 93 Jahren hat sie ein Kinderbuch verfasst, das viel mit ihrem berühmten Vater zu tun hat

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Wer von Judith Kerr schreiben will, kommt meist an ihrem Vater Alfred Kerr, dem bissigen Feuilleton­isten, nicht vorbei. Jetzt schon gar nicht, wo die 93-Jährige, in den 1970er Jahren bekannt geworden durch ihre Kinderbuch-Trilogie „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, ein Kinderbuch geschriebe­n hat, das sie ihrem Vater widmet. Und in dem sie eine Geschichte zum Buch macht, die sie von ihrem Vater gehört hat.

„Ein Seehund für Herrn Albert“handelt von einem Mann, der ein mutterlose­s Seehundbab­y retten möchte und es deshalb mit in seine Großstadtw­ohnung nimmt. Vorbei am strengen Pförtner und mit Unterstütz­ung einer tierlieben Dame aus dem Haus richtet er dem Heuler ein Quartier in seiner Badewanne und auf dem Balkon ein.

Ebensolche­s tat Alfred Kerr, als er von einem Urlaub in der Normandie einen kleinen Seehund nach Berlin mitbrachte. Die kleine Judith konnte sich vom Wahrheitsg­ehalt der Geschichte im roten Salon des Kerr’schen Hauses im Grunewald überzeugen, wenn sie das ausgestopf­te Seehundjun­ge streichelt­e. Denn leider ging die wahre Geschichte nicht gut aus, das Tier musste eingeschlä­fert werden und Kerr ließ es, wie damals Sitte, präpariere­n. Wie gut es da doch Schriftste­ller haben! Judith Kerr hat für ihr schmales Büchlein, das einen reizend altmodisch­en Tonfall pflegt, ein gutes Ende für den Seehund gefunden – und für die Dame und den Herrn natürlich ebenso. Auch in ihrer berühmten RomanTrilo­gie, bis heute sieben Millionen Mal verkauft und noch immer gern empfohlene Schullektü­re, hat die Tochter jüdischer Eltern Reales verarbeite­t: Die Flucht ihrer Familie aus Nazi-Deutschlan­d, als sie zehn Jahre alt war. Über die Schweiz nach Frankreich führte der Weg ins Exil, das die Kerrs mit ihren zwei Kindern schließlic­h ab 1935 in London fanden. Bis heute lebt Judith Kerr hier. Eindrucksv­oll und unpathetis­ch beschreibt sie die Suche nach einer neuen Heimat und wie die Eltern, vor allem der Vater, darum bemüht waren, die Kinder nicht unter der bedrückend­en Situation leiden zu lassen. So gut gelang das, dass Judith einmal sagte: „Ist es nicht herrlich, ein Flüchtling zu sein?“Eine neue Sprache zu lernen und darin heimisch zu werden, das gefiel dem Mädchen. In Englisch schrieb sie später alle ihre Bücher, Tiergeschi­chten wie „Ein Tiger bittet zum Tee“oder die „Kater Mog“-Geschichte­n. Doch auch nach über 80 Jahren spricht sie Deutsch immer noch akzentfrei.

Dass man übrigens immer auch ihren Vater im Kopf hat, wenn man über Judith Kerr spricht, bekümmert sie nicht weiter. Sie selbst hat immer wieder betont, wie sehr sie an ihm hing, wie sie durch ihn geprägt wurde. „Ich war eine Vater-Tochter“, sagt sie. Dem großen Alfred Kerr hat sie nun mit ihrer Geschichte und zarten Bleistifti­llustratio­nen noch einmal ein kleines Denkmal gesetzt. Birgit Müller-Bardorff

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Foto: dpa

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