Mittelschwaebische Nachrichten
Stunde null für Merkel und Gabriel
Noch vor Monaten schien die Kanzlerin für die Sozialdemokraten unbesiegbar und der SPD-Chef für die Union ein ungefährlicher Gegner. Wird das Rennen 2017 doch wieder spannend?
Berlin Wie schnell sich in der Politik der Wind drehen kann. Die Kanzlerin erscheint nicht mehr unangreifbar, und ihr Vizekanzler steht besser da als lange zuvor. Sigmar Gabriel kommt am Montag überraschend heil aus seinem heiklen SPD-Konvent zum Ceta-Freihandelsabkommen. Und Angela Merkel sieht sich zeitgleich zu einem überraschenden Knicks vor der CSU genötigt, um die Schwesterpartei und deren Chef Horst Seehofer im Streit um die Flüchtlingspolitik irgendwie zu besänftigen. Der SPD-Chef und die CDU-Vorsitzende – steht für beide ein Jahr vor der Bundestagswahl also alles auf Anfang?
Herbe Einbußen bei den Landtagswahlen in diesem Jahr musste sowohl die SPD als auch die CDU verkraften. Die beiden jüngsten Abstimmungen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin waren allerdings für die Merkel-CDU ein Schlag ins Kontor, während die SPD gerade noch ihre Regierungsführung verteidigen konnte. Gabriel ging mit Rückenwind in den Wolfsburger Parteikonvent zu Ceta. Dort riss er sich zusammen, präsentierte einen Kompromiss mit dem linken Flügel der Partei – und ging mit einem weit besseren Ergebnis nach Hause als gedacht. Schon in Wolfsburg wurde Gabriel gefragt, ob er nach den Wahlen und dem Konventsvotum nun gesetzt sei als Kanzlerkandidat.
„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“, antwortete er knapp. Die Kandidatenfrage ist bei der SPD zu einem leidigen Thema geworden. Ständig wird nachgebohrt, und die Genossen beten stets die gleiche Antwort herunter: Der Parteichef hat den ersten Zugriff, die Entscheidung fällt Anfang des Jahres, ein Parteitag beschließt im Frühjahr. Und so weiter. Auch SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann sagt am Dienstag diese Sätze auf. Aber er versieht sie mit einem Zusatz, der aufhorchen lässt. „Wir werden diese Frage Anfang nächsten Jahres entscheiden – vielleicht auch schon ein bisschen früher.“
Was Oppermann mit dieser Andeutung genau sagen will, verrät er nicht. Auch mancher Genosse wundert sich. Aus Parteikreisen heißt es, am bisherigen Zeitplan habe sich nichts geändert. Auch Merkel hat einen Zeitplan für die Ankündigung, ob sie eine vierte Kanzlerkandidatur anstrebt – aber sie verrät ihn nicht. Ihr Standardsatz, dass sie das zu „gegebenem Zeitpunkt“tun werde, lässt manche Unionspolitiker langsam ungeduldig werden.
Aus der CDU-Führung mehren sich die Aufforderungen an Merkel, anzutreten. Und die CSU-Landesgruppenvorsitzende Gerda Hasselfeldt sagt: „Natürlich würde es so manche Diskussion erleichtern, wenn diese Entscheidung nicht auf den St. Nimmerleinstag verschoben würde.“Die CSU hat Anfang November ihren Parteitag. Klarheit wäre da schon nicht schlecht.
Das Wahljahr 2016 ist gelaufen. Alles schaut nun auf das große Wahljahr 2017, das mit der Bundespräsidentenwahl beginnt, die Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen bringt und mit der Bundestagswahl endet. Es sind besondere Zeiten. Die Republik ist aufgewühlt durch die Flüchtlingskrise, Rechtspopulis- ten sind im Höhenflug. Merkel meint, manche Menschen interessierten sich nicht mehr für Fakten, sondern folgten alleine ihren Gefühlen – wie Ängsten vor Ausländern und zu großer Veränderung.
Die Kanzlerin will es nun mit mehr Gefühl versuchen, will ihre Politik besser erklären, die Tonlage ändern. Ihr Auftritt am Montag wird von der CSU als Selbstkritik und ein Eingeständnis verstanden, dass sie Fehler in der Flüchtlingspolitik gemacht habe. Dabei ist Merkel inhaltlich keinen Deut von ihren Positionen abgerückt. Sie hat das Ganze nur netter formuliert. Man könnte das auch ziemlich ausgebufft finden. Aber kann die Kanzlerin das durchhalten?
Merkel, die Physikerin, der Faktenmensch. Wenn sie könnte, würde sie die Zeit um viele, viele Jahre zurückdrehen, damit sie sich auf die Flüchtlingskrise besser hätten vorbereiten können, sagte Merkel am Montag. Mit Strategien, internationalen Abkommen, klareren Regeln und schnelleren Verfahren. Vermutlich weniger mit Gefühlen.
Gabriel dagegen tut sich nicht besonders schwer damit, Gefühle zu zeigen. Im Gegenteil: Manchmal lässt er seinen Gefühlen allzu freien Lauf. Manchmal fährt er aus der Haut, lässt sich provozieren, fällt aus der Rolle. Dann greift er vor dem versammelten FernsehDeutschland giftig Moderatorinnen an oder zeigt pöbelnden Rechtsextremen den „Stinkefinger“. Authentizität nennen das die einen, Kontrollverlust die anderen. Merkel und Gabriel haben beide ihre Herausforderungen, was ihr Auftreten im Wahlkampf angeht. Wenn sie denn antreten. Christiane Jacke
und Kristina Dunz, dpa